»Dann trag deinen Namen ein, Jock Moulder, oder mach dein Zeichen.«
»Hierher!« schnarrte der Erste Steuermann und legte die Kuppe des Zeigefingers an die entsprechende Zeile der Musterrolle.
Ohne zu zögern, griff der wieselhafte Moulder nach dem Bleistiftstummel und malte mit fast heiliger Andacht ein sich in einem Kreis befindendes Kreuz in die Zeile.
Jacob sah ihm über die Schulter und stellte fest, daß mehr als die Hälfte der angemusterten Seeleute ihre Namen nicht schreiben konnten. Statt dessen gab es alle möglichen Zeichen: wellenförmige Linien, stilisierte Fische und Schiffe, Dreiecke, Rechtecke, Kreise und immer wieder Kreuze in den unterschiedlichsten Variationen.
»Und du, Mann aus Deutschland?« fragte Raven. »Du bist kein Seemann, das sehe ich sofort. Verfügst du über besondere Fähigkeiten, mit denen du dich an Bord nützlich machen kannst?«
»Ich bin Zimmermann.«
Jacob drehte den Kopf zur Seite, damit Raven den goldenen Ring sehen konnte, der im rechten Ohr des Deutschen steckte. Das Zeichen der Zimmermannszunft, das Jacob von seinem Vater, dem Zimmermannsmeister Heinrich Adler, nach Bestehen der Probezeit erhalten hatte.
»Ein Zimmermann, aber vermutlich kein Schiffszimmermann«, zeigte sich Cyrus Stanford skeptisch.
»Ich habe schon auf einem Schiff als Zimmermann gearbeitet!«
»So?« fragte Kapitän Raven interessiert. »Auch welchem?«
»Auf der Bark, mit der ich von Hamburg nach New York gekommen bin. Das war die ALBANY, die jetzt in Frisco vor Anker liegt.«
Täuschte sich Jacob?
Es kam ihm so vor, als tauschten der Kapitän und sein Erster Steuermann bei der Erwähnung der ALBANY bedeutungsvolle Blicke aus.
Aber es mußte ein Irrtum sein. Alles andere ergab keinen Sinn.
»Ich denke, der alte Esteban, unser Schiffszimmermann, kann eine Hilfe ganz gut gebrauchen«, meinte der Mann mit der schwarzen Augenklappe. »Kann sein, daß die LUCIFER einen Ersatzmast oder etwas ähnliches benötigt. Da sind vier Hände besser als zwei. Schreib dich also ein, Adler!«
Und Jacob schrieb sich ein.
Auch wenn Raven der Sache den Anschein der Freiwilligkeit verlieh, war Jacob doch bewußt, daß ihm keine Wahl blieb. Außer der, sich weiteren Peitschenhieben auszusetzen.
Und doch war es seltsam. Als der Kapitän ihn nach seinen Fähigkeiten fragte, wollte Jacob sein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Er wollte anerkannt werden. Schließlich hatte er hart gearbeitet, um ein guter Zimmermann zu werden.
Drei Jahre lang war er in der Heimat auf der Walz gewesen. Doch als er zurückkam, war die erhoffte Freude schnell in Ernüchterung und Entsetzen umgeschlagen.
Seine Braut war mit einem anderen verheiratet.
Seine Mutter war tot.
Sein Vater und die Geschwister waren verschwunden, vermutlich nach Amerika ausgewandert.
Jacob wollte sie finden. Aber statt nach ihnen zu suchen, mußte er jetzt widerwillig Dienst auf diesem seltsamen Walfänger tun.
Moulder drängte sich an die Kiste, auf der die Musterrolle lag. Mit zusammengekniffenen Augen und gerunzelter Stirn starrte er auf das Papier. Immer näher kamen seine Augen dem dicken Buch.
»Stimmt was nicht, Seemann?« fragte Stanford rüde. »Willst dich wohl im Lesen üben, was?«
»Nein«, antwortete Moulder ernst und zeigte auf die hinterste Vertikalspalte. »Ich wunder mich nur, daß hier nichts eingetragen is'. Hier müßte doch stehen, wie hoch jeder von uns am Gewinn der Fahrt beteiligt is'.«
»Kluges Kerlchen«, grinste der Erste Steuermann wölfisch. »Meinst wohl.«
Stanford unterbrach sich, denn John Raven erhob sich von dem Schemel und straffte seine hagere Gestalt. Das zog die Aufmerksamkeit der Mannschaft auf sich.
»Männer, viele von euch haben sich gewundert, warum in der Musterrolle der Eintrag der Beteiligung am Fanggewinn fehlt«, rief er mit schallender Stimme über das Deck.
Mit Leichtigkeit übertönte er das Rauschen der Wellen und das Knattern der Segel im munteren Wind.
»Die Antwort ist ganz einfach: Es gibt keine Beteiligung, weil es keinen Gewinn gibt. Und es gibt keinen Gewinn, weil wir keine Wale fangen werden.«
Ravens Worte lösten beim größten Teil der Mannschaft Verwirrung aus. Außer den Offizieren schienen nur sehr wenige zu wissen oder zumindest zu ahnen, in welcher Mission die LUCIFER unterwegs war.
Fragen wurden laut. Die Verwirrung der Männer und ihre Furcht, mit leeren Taschen heimzukehren, ließen sie ihren übergroßen Respekt vor Raven vorübergehend vergessen.
»Wozu sind wir auf See, wenn wir keine Wale fangen?« schrie ein vollbärtiger Mann mit dem Körper eines Fasses.
»Ich dachte, die LUCIFER ist ein Walfänger«, rief ein olivhäutiger Mann mit spanischem Akzent.
»Ich muß zu Hause Frau und Kinder ernähren!« beschwerte sich ein kräftiger, rotschöpfiger Ire.
»Ihr sollt nicht leer ausgehen«, versprach Raven und verschaffte sich durch das Ausbreiten seiner Arme Gehör.
In dieser Stellung wirkte der schwarzgekleidete Mann wie ein heidnischer Gott, der über seine Anhänger gebot.
»Ich zahle jedem einfachen Seemann pro Tag auf See zwei Golddollar, Maaten und Offizieren entsprechend mehr. Und falls wir unsere Beute fangen, gibt's das Doppelte! Selbst wenn wir schnell zum Ziel kommen, soll das nicht zu eurem Schaden sein. Ich garantiere jedem tapferen Mann hier an Bord eine Mindestheuer von zwanzig Golddollar, auch falls wir morgen schon zurück nach Frisco fahren sollten.«
Einige der Männer brachen in lautes Jubelgeschrei und in Hochrufe auf Kapitän Raven aus.
Andere blieben skeptisch. Einer der Skeptiker war der Ire mit Frau und Kindern.
»Was für eine Beute, Käpten?« übertönte sein rauhes Organ die Stimmen der anderen. »Eben haben Sie gesagt, die LUCIFER fährt nicht auf Walfang aus.«
»Wir jagen auch keinen Wal«, bestätigte John Raven, und ein fanatischer Ausdruck trat in sein einziges Auge. »Das Wild, dem wir nachspüren, ist das stählerne Monster!«
Schlagartig brachen alle Gespräche und Rufe ab.
Ungläubig starrten die Männer ihren Kapitän an.
In vielen Gesichtern lag nicht nur Unglauben, sondern pure Angst.
*
An Bord der ALBANY
»Haben Sie eine Waffe, Hansen?« fragte Captain Levander Driscoll, während er mit gezogenem Navy Colt neben der Kajütentür in Deckung ging.
Durch das Schiff hallten noch immer die Schüsse und Schreie, die so urplötzlich wie ein heimtückischer Orkan über die Bark hereingebrochen waren.
Der alte Seebär nickte verstört.
»Ich habe einen Revolver in meiner Seekiste.«
»Dann holen Sie ihn, in Gottes Namen!« fauchte der blauuniformierte Soldat. »Wenn mich nicht alles täuscht, bekommen wir bald mächtigen Ärger.«
Die Lethargie fiel von Hansen ab. Er sprang so hastig auf, daß sein Stuhl umstürzte, und beugte sich über die alte, abgeschabte Kiste, die neben der Koje stand und so gar nicht zum polierten Prunk der übrigen Kajüteneinrichtung passen wollte.
Darin bewahrte er seine persönlichen Sachen auf. Und den sechsschüssigen Kerr-Revolver, der obenauf lag und jetzt von der wettergegerbten Pranke des Kapitäns ergriffen wurde.
»Versorgen Sie sich mit genügend Munition«, ermahnte ihn Driscoll. »Könnte sein, daß Sie später keine Gelegenheit dazu haben.«
»Ist gut.«
Diesmal mußte Piet Hansen tiefer in der Kiste kramen, bis er die Schachtel mit den Patronen fand. Er steckte sie in eine Jackentasche.
Driscoll zog derweil mit der linken Hand vorsichtig die Tür auf. In der Rechten hielt er den schußbereiten Colt.
»Können Sie etwas sehen?« fragte Hansen, während er die Trommel des Kerrs ausklappte und die Ladung überprüfte.
»Nichts. Der Gang und der Decksaufgang sind so leer wie Armeleutebäuche am Wochenende. Aber an Deck scheint die Hölle los zu sein. Den Schüssen nach zu urteilen.«