»Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, dieses Ungeheuer zur Strecke zu bringen«, fuhr der Mann mit der Augenklappe laut fort. »Denn das stählerne Monster ist verantwortlich für den Untergang der CORA SUE. Es hat meinen Bruder Charles und seine Frau auf dem Gewissen.«
»Aber wie sollen wir gegen ein Monster aus Stahl bestehen?« fragte der irische Familienvater. »Seine Haut ist undurchdringbar. Und es heißt, das Tier habe hundert Augen und ebenso viele Tentakel. Mehr als der gefährlichste, größte Krake.«
»Unsinn!« schmetterte Raven den Einwand ab. »Es hat keine Tentakel. Ich habe es gesehen. Und es ist auch kein Tier.«
»Was dann?« rief jemand.
»Ein Boot«, antwortete der Kapitän der LUCIFER. »Es ist ein Fischboot der Konföderierten. Das ist die Erklärung dafür, daß es stets nur Schiffe angreift, die Fracht für die Union transportieren.«
»Was ist ein Fischboot?« fragte Jacob.
»Ein Boot, das wie ein Fisch unter der Wasseroberfläche schwimmt«, erklärte Raven ein wenig herablassend. »Der Name sagt es schon.«
»So etwas. gibt es?«
»Gewiß, Adler. Die Konföderierten haben solche Boote schon verschiedentlich erprobt, aber meistens in Küstennähe. Dies hier muß ein besonders ausgereiftes Modell sein. Aber das macht nichts, wir werden es erwischen!«
»Was macht Sie so sicher, Käpten?« hakte der Deutsche nach.
»Ich habe die diversen Schiffsuntergänge, für die das stählerne Monster verantwortlich gemacht wird, genau studiert. Deshalb weiß ich, in welchen Bereichen das Fischboot operiert. Nie zu weit von der Küste entfernt oder in der Nähe kleiner Inseln. Wir werden dort kreuzen und das Monster aufspüren.«
»Und wenn wir es trotzdem nicht finden?« rief der skeptische Ire. »Der Pazifik ist kein Ententeich!«
»Für den Fall, mein wißbegieriger Freund, haben wir einen besonderen Lockvogel, in dessen Nähe wir uns aufhalten. Sobald wir das Fischboot aufspüren, geben wir ihm Zunder. Die LUCIFER ist an jeder Seite mit neun schweren Hundertachtzigpfündern bestückt. Außerdem halten wir ein paar ganz besondere explosive Überraschungen für das Seeungeheuer bereit.«
Raven löste seinen Blick von dem Iren und schaffte es irgendwie, der versammelten Mannschaft das Gefühl zu geben, er blicke jedem einzelnen tief in die Augen.
»Was ist mit euch, Männer? Wollt ihr mir helfen, dieses angebliche Monster zu erlegen? Glaubt mir, dabei kommt ihr schneller zu Geld als auf den Goldfeldern!«
Es war fast, als verfüge John Raven über übernatürliche Kräfte. Die Skepsis der Männer wich zugunsten einer begeisterten Zustimmung.
Mit einem befriedigten Lächeln, das auf seinem entstellten, verbitterten Gesicht seltsam fremd wirkte, nahm der Kapitän das zur Kenntnis.
Er zog einen Lederbeutel aus der Tasche, hielt ihn hoch und schüttelte ihn. Dabei klimperte es verlockend.
»Die Topgasten sollten besonders wachsam sein. Hier drin sind zwanzig Golddollar. Eine Extrabelohnung für den, der das Fischboot zuerst erspäht und meldet.«
Während Raven aus einer Kiste Hammer und Nagel nahm, wurde er von begeisterten Hochrufen geradezu überschüttet. Lächelnd ging er zum Besanmast und schlug den Lederbeutel dort fest.
»Hier hängt die Prämie, Männer. Jeder, der wach ist und über gute Augen verfügt, kann sie sich verdienen!«
»Für das Geld klettere ich sogar bis zum Großmasttop!«
Der Mann, der das ausgerufen hatte, war der kleine Jock Moulder.
Der Mann mit der Augenklappe drehte sich zu ihm um und musterte ihn eindringlich.
»Wirklich?« fragte er scharf.
»Aye, Käpten!« stieß Moulder hervor. Angesichts der zwanzig Golddollar wirkte er wie von Sinnen. »Soll ich's beweisen?«
Raven nickte nur.
Da war Moulder auch schon unterwegs, bahnte sich einen Weg durch die zusammengedrängte Mannschaft und stieg in die Groß-Unterwanten.
Atemloses Schweigen machte sich auf Deck der LUCIFER breit, als Moulder wieselflink am Großmast emporkletterte, höher und höher.
Er erreichte die Bramsaling, die kleine Plattform etwa ein Viertel der Masthöhe unterhalb der Mastspitze, die als höchster Aussichtspunkt galt. Höher zu klettern, war zu gefährlich auf dem schwankenden Segler.
Aber Jock Moulder kümmerte sich nicht darum. Die zwanzig goldenen Münzen, die träge am Besanmast hingen, hatten seine Sinne verwirrt.
Und tatsächlich sah es so aus, als würde er den Großmasttop - den höchsten Punkt des ganzen Schiffes - erreichen. Ja, er schaffte es!
Die Männer auf Deck brachen, die Köpfe in die Nacken gelegt, in lauten Jubel aus.
Moulder löste eine Hand von der Mastspitze, um ihnen und besonders dem Kapitän zuzuwinken.
In diesem Augenblick erwischte ein besonders starker Brecher den Rumpf der LUCIFER.
Vielleicht war es nur das unerwartet heftige Schwanken der dünnen, biegsamen Mastspitze. Vielleicht war es auch der Umstand, daß Moulders Hände noch glitschig waren von dem Fett, mit dem er Jacobs Rücken eingerieben hatte.
Jedenfalls verlor er den Halt und stürzte in die Tiefe. Er wedelte dabei wild mit den Armen. Es wirkte wie ein groteskes Zuwinken an die Kameraden unten, die seinen Flug bewundern sollten. In Wahrheit war es die verzweifelte Suche nach einem Halt. Moulder fand keinen.
Das hölzerne Schutzdach der Kocherei fing ihn auf - und brach ihm das Rückgrat.
Jock Moulder war das erste Todesopfer, das John Ravens Rachsucht gefordert hatte.
In Jacob breitete sich neben der Trauer das ungute Gefühl aus, daß der kleine gutmütige, unbesonnene Seemann nicht der letzte Tote an Bord bleiben sollte.
*
An Bord der ALBANY.
Die Gefangenen lagen gebunden im Zwischendeck, dort, wo auf der Fahrt von Fogerty nach San Francisco die Passagiere gehaust hatten, die mit der ALBANY rasch zu den kalifornischen Goldfeldern wollten.
Alle waren so stark gefesselt, daß sie sich kaum bewegen konnten. Piet Hansen, der verletzte und von Hansen verbundene Captain Driscoll, der Erste Steuermann Joe Weisman und die Besatzungsmitglieder, die dem richtigen Kapitän treu ergeben waren. Das waren ein guter Teil der Leute, die schon länger auf dem Dreimaster fuhren und Piet Hansen schätzten. Deshalb hatten sie auch im Hafen von San Francisco der Verlockung der nahen Goldfelder widerstanden.
Nur wenige von ihnen waren zu den Meuterern übergelaufen. Die Meuterer waren in der Mehrzahl die Männer, die erst am Morgen dieses Tages in San Francisco an Bord gekommen waren. Jetzt bildeten sie unter Jed Coopers Befehl die Besatzung des Schiffes.
Aber die eigentlichen Befehlshaber waren Arnold Schelp und seine drei Komplizen, die auf fast schon widernatürliche Weise vom Glück begünstigt zu sein schienen.
Die ALBANY glitt in rascher, aber verhältnismäßig ruhiger Fahrt dahin. Piet Hansen nahm an, daß Cooper auf Schelps Befehl den Kurs geändert hatte und jetzt geradewegs nach Süden fuhr. Schließlich lag es im Interesse der Waffenschmuggler, den Einflußbereich der US-Navy möglichst rasch zu verlassen.
Die Bark würde um die Spitze von Baja California, wie die Mexikaner den ihnen gehörenden südlichen Teil Kaliforniens nannten, herumsegeln, um in den Golf von Kalifornien einzulaufen. An der Küste der mexikanischen Nordost-Provinz Sonora, nahe der Stadt Guaymas, lag das Ziel der Waffenschmuggler. Von dort sollten die in Deutschland gefertigten Geschütze über Land nach Texas gebracht werden, um den bedrängten Konföderierten im Kampf gegen Abraham Lincolns Armeen zu helfen.
Levander Driscoll, der neben Hansen lag, stöhnte plötzlich laut.
Als der Seemann den Soldaten nach besten Kräften mit einem seiner Sonntagshemden verband, war der Nordstaatler bewußtlos geworden. Kein Wunder, steckte Abel McCords Kugel doch tief in seiner Brust. Driscoll hatte Glück im Unglück gehabt, daß weder Herz noch Lungen verletzt worden waren.