«Mr Fitzwilliam, nicht wahr?»
«Ja, ich – »
«Ich bin Rose Humbleby. Bridget sagte mir, dass – dass Sie Leute kennen, die meinen Vater kannten.»
Luke errötete leicht.
«Es war vor langer Zeit», sagte er etwas verlegen. «Sie kannten ihn als jungen Mann – bevor er heiratete.»
«Ach so.»
Rose Humbleby sah ein wenig enttäuscht aus.
«Sie schreiben ein Buch, nicht wahr?»
«Ja, das heißt, ich mache Aufzeichnungen dafür. Über lokalen Aberglauben und dergleichen.»
«Das klingt furchtbar interessant.»
«Es wird wahrscheinlich furchtbar langweilig sein.»
«Ach nein, sicher nicht.»
Luke lächelte sie an. Er dachte: Unser Dr. Thomas hat Glück! Rose Humbleby erwiderte sein Lächeln.
«Glauben Sie daran – an Aberglauben und alle diese Sachen?»
«Das ist eine schwierige Frage. Man kann sich auch für Dinge interessieren, an die man nicht glaubt.»
«Ja, das mag sein», es klang etwas zweifelnd.
«Sind Sie abergläubisch?»
«N-nein – ich glaube nicht. Aber ich glaube, dass Ereignisse in – in Wellen kommen.»
«In Wellen?»
«Wellen von Unglück oder Glück. Ich meine – ich habe das Gefühl, als ob in letzter Zeit ganz Wychwood unter einem Bann von Unglück stände. Dass der Vater starb – und Miss Pinkerton überfahren wurde, und der kleine Junge aus dem Fenster fiel! – Ich – hatte ein Gefühl, als hasste ich diesen Ort als müsste ich fort!»
Ihr Atem ging etwas rascher. Luke sah sie nachdenklich an. «So empfinden Sie also?»
«Ach, ich weiß, dass es dumm ist. Es war wohl, weil der arme Vater so unerwartet starb – es war so entsetzlich plötzlich.» Sie erschauerte. «Und dann Miss Pinkerton. Sie sagte – » Das Mädchen hielt inne.
«Was sagte sie? Sie war eine entzückende alte Dame, fand ich – sah einer Lieblingstante von mir ähnlich.»
«Oh, haben Sie sie gekannt?» Das Gesicht von Rose erhellte sich. «Ich hatte sie sehr gern, und sie war Vater so zugetan. Aber ich habe mich manchmal gefragt, ob sie nicht ein wenig wunderlich war.»
«Warum?»
«Weil – es ist so seltsam – sie schien zu befürchten, dass Vater etwas zustoßen könnte. Sie warnte mich beinahe, besonders vor Unfällen. Dann an jenem Tag – bevor sie in die Stadt fuhr – war sie so merkwürdig, ganz zapplig und nervös. Ich glaube wirklich, Mr Fitzwilliam, sie war einer von den Menschen, die das Zweite Gesicht haben. Ich glaube, sie wusste, dass ihr etwas passieren würde. Und sie muss auch gewusst haben, dass Vater etwas zustoßen würde. Diese Dinge sind wirklich erschreckend!»
Sie trat einen Schritt näher an ihn heran.
«Es gibt Zeiten, wo man die Zukunft voraussehen kann», sagte Luke. «Aber das ist nicht immer übernatürlich.»
«Nein, ich vermute, es ist eigentlich ganz natürlich – eben nur eine Fähigkeit, die den meisten Leuten fehlt. Trotzdem – es – bekümmert mich –.»
«Sie dürfen sich keine Gedanken machen», meinte Luke sanft. «Es liegt ja jetzt alles hinter Ihnen. Es nützt nichts, über die Vergangenheit nachzugrübeln; man muss für die Zukunft leben.»
«Ich weiß. Aber da ist noch etwas, wissen Sie…» Rose zögerte. «Etwas, das mit Ihrer Cousine zu tun hat.»
«Meiner Cousine? Bridget?»
«Ja. Miss Pinkerton war in irgendeiner Weise um sie besorgt. Sie stellte mir immer Fragen… Ich glaube, sie fürchtete auch für sie.»
Luke wandte sich abrupt um und musterte den Bergrücken. Es überfiel ihn plötzlich eine völlig unvernünftige Angst. Bridget – allein mit dem Mann, dessen Hände die krankhafte Färbung grünlichen, in Verwesung übergehenden Fleisches hatten! Einbildung – alles Einbildung! Ellsworthy war nur ein harmloser Dilettant, der sich mit seinem Laden aufspielte.
Als könne sie seine Gedanken lesen, fragte Rose:
«Mögen Sie Mr Ellsworthy?»
«Entschieden nicht.»
«Geoffrey – Dr. Thomas, wissen Sie, mag ihn auch nicht.»
«Und Sie?»
«Ich finde ihn schrecklich.» Sie kam noch etwas näher. «Es wird eine Menge über ihn geredet. Man hat mir erzählt, dass er eine seltsame Feier auf der Hexenwiese abhielt – eine Menge Freunde von ihm kamen aus London dazu her – äußerst sonderbar aussehende Leute. Und Tommy Pierce war eine Art Ministrant.»
«Tommy Pierce?» sagte Luke lebhaft.
«Ja. Er hatte ein Chorhemd und einen roten Priesterrock an.»
«Wann war das?»
«Oh, vor längerer Zeit – ich glaube, es war im März.»
«Tommy Pierce scheint an allem, was je in diesem Dorf stattfand, beteiligt gewesen zu sein.»
«Er war furchtbar neugierig, er musste immer wissen, was vorging.»
«Wahrscheinlich wusste er zum Schluss, ein bisschen zuviel», vermutete Luke grimmig.
«Er war eigentlich ein abscheulicher kleiner Junge; er liebte es, Wespen zu zerschneiden, und er quälte Hunde.»
«Ein Junge, dessen Ableben vermutlich kaum zu bedauern ist!»
«Nein, vermutlich nicht. Aber für seine Mutter war es schrecklich.»
«Soviel ich weiß, sind ihr fünf kleine Töchter geblieben! Sie hat ein flottes Mundwerk, diese Frau!»
«Sie redet furchtbar viel, nicht wahr? Das ist das Schlimme an so einem Ort: Jeder weiß alles von jedem!»
«O nein», widersprach Luke.
Sie sah ihn fragend an.
Luke erklärte bedeutungsvolclass="underline"
«Kein menschliches Wesen weiß die volle Wahrheit über ein anderes.»
Roses Gesicht wurde ernst. Sie erschauerte ein wenig. «Nein; ich vermute, das ist wahr.»
«Nicht einmal unsere Nächsten und Liebsten», fuhr Luke fort.
«Nicht einmal – » Sie hielt inne. «Ach, ich vermute, Sie haben recht – aber ich wollte, Sie würden nicht so erschreckende Sachen sagen, Mr Fitzwilliam!»
«Erschreckt es Sie?»
Langsam nickte sie.
Dann wandte sie sich jäh ab.
«Ich muss gehen. Wenn – wenn Sie nichts Besseres zu tun haben – ich meine, wenn Sie können – besuchen Sie uns doch mal. Mutter würde – würde gern mit Ihnen reden, da Sie alte Freunde von Vater kennen.»
Sie ging langsam die Straße hinunter. Ihr Kopf war ein wenig geneigt, als beugten ihn die Sorgen nieder.
Luke blieb stehen und schaute ihr nach. Eine plötzliche Besorgtheit überkam ihn; er hatte das Bedürfnis, dieses Mädchen zu beschützen.
Wovor? Als er sich diese Frage stellte, schüttelte er den Kopf in momentaner Ungeduld mit sich selbst. Es war wahr, dass Rose Humbleby kürzlich ihren Vater verloren hatte, aber sie hatte eine Mutter und war verlobt mit einem entschieden anziehenden jungen Mann, der der Beschützerrolle vollkommen gewachsen war. Also warum überkam ihn, Luke Fitzwilliam, dieser Beschützerkomplex?
«Immer dasselbe», sagte er zu sich selbst, während er in Richtung Ashe Ridge spazierte, «das Mädel ist mir eben sympathisch. Sie ist viel zu gut für Thomas – kalter Geselle, der er ist!»
Das Lächeln des Arztes auf der Türschwelle kam ihm in Erinnerung; entschieden selbstgefällig war es gewesen! So zufrieden!
Das Geräusch von Schritten ein wenig vor ihm weckte Luke aus seinen leicht gereizten Grübeleien. Er blickte auf und sah den jungen Ellsworthy den Pfad vom Berg herunterkommen, die Augen zu Boden gesenkt und vor sich hinlächelnd. Sein Ausdruck missfiel Luke. Ellsworthy ging weniger, als dass er förmlich einherstolzierte – wie ein Mann, der dem Rhythmus einer teuflischen kleinen Melodie in seinem Hirn folgt. Sein Lächeln war eine seltsame Verzerrung der Lippen – es hatte eine heitere Verschlagenheit, die ausgesprochen unangenehm war.
Luke war stehengeblieben, und Ellsworthy hatte ihn schon beinahe erreicht, als er endlich aufsah. Seine Augen, boshaft und fröhlich, trafen die des anderen ein paar Sekunden lang, ehe sie ihn erkannten. Dann ging – oder erschien es Luke nur so – eine vollkommene Veränderung mit dem Mann vor sich. Hatte er vor einer Minute noch an einen tanzenden Satyr erinnert, zeigte sich jetzt nur ein etwas eingebildeter junger Mann.