«Und sie war auch nicht auffallend verschwenderisch, bevor sie starb?»
«Ich glaube nicht.»
«Das spricht so ziemlich gegen die Erpressungstheorie. Das Opfer zahlt gewöhnlich einmal, ehe es die letzte Maßnahme ergreift. Dann bliebe noch eine Annahme: Sie hat etwas gewusst.»
«In welcher Art?»
«Sie könnte etwas gewusst haben, das jemandem in Wychwood gefährlich hätte werden können. Nehmen wir einen rein hypothetischen Fall. Sie war hier in verschiedenen Häusern im Dienst. Gesetzt den Fall, sie hätte da etwas in Erfahrung gebracht, das jemandem, zum Beispiel Mr Abbot, beruflich schaden könnte.»
«Mr Abbot?»
Luke sagte rasch:
«Oder irgendeine Nachlässigkeit oder Unkorrektheit vonseiten Dr. Thomas’.»
Miss Waynflete begann: «Aber sicherlich…», und hielt dann inne.
Luke fuhr fort:
«Amy Gibbs war Hausmädchen, sagten Sie, bei Hortons, zur Zeit als Mrs Horton starb.»
Es entstand eine kleine Pause, dann sagte Miss Waynflete: «Möchten Sie mir nicht sagen, Mr Fitzwilliam, warum Sie die Hortons da hereinbringen? Mrs Horton starb vor über einem Jahr.»
«Ja, und Amy war damals dort.»
«Ja so. Was haben die Hortons damit zu tun?»
«Ich weiß nicht. Es ist mir nur so eingefallen. Mrs Horton starb an akuter Gastritis, nicht wahr?»
«Ja.»
«Kam ihr Tod unerwartet?»
Miss Waynflete sagte langsam:
«Für mich schon; denn, sehen Sie, es ging ihr schon viel besser – sie schien auf dem Weg der Genesung, und dann hatte sie einen plötzlichen Rückfall und starb.»
«War Dr. Thomas überrascht?»
«Ich weiß nicht. Ich glaube, ja.»
«Und die Pflegerinnen, was sagten die?»
«Meiner Erfahrung nach», sagte Miss Waynflete, «sind Pflegerinnen nie überrascht, wenn ein Fall eine schlimme Wendung nimmt! Nur Genesung überrascht sie.»
«Aber ihr Tod überraschte Sie?» beharrte Luke.
«Ja. Ich war erst am Tage vorher bei ihr gewesen, und es schien ihr viel besser zu gehen, sie hatte geplaudert und war ganz heiter gewesen.»
«Wie dachte sie über ihre Krankheit?»
«Sie klagte, dass die Pflegerinnen sie vergifteten! Eine hatte sie schon weggeschickt, aber sie sagte, diese beiden seien genauso schlimm.»
«Ich vermute, Sie haben dem nicht viel Beachtung geschenkt?»
«Nein, ich dachte, das sei alles ihrer Krankheit zuzuschreiben. Sie war auch sonst eine sehr misstrauische Frau und – es ist vielleicht unfreundlich, das zu sagen – sie machte sich gern wichtig; kein Arzt habe je ihren Fall verstanden – und es war nie etwas Einfaches – es musste entweder eine sehr geheimnisvolle Krankheit sein oder ‹jemand wollte sie aus dem Weg haben›.»
Luke bemühte sich, seine nächsten Worte möglichst beiläufig klingen zu lassen.
«Sie verdächtigte ihren Mann nicht des Versuchs, sie aus dem Weg zu räumen?»
«O nein, diese Idee kam ihr nie!»
Miss Waynflete zögerte einen Augenblick, dann fragte sie ruhig:
«Das denken Sie?»
Luke sagte langsam:
«Ehemänner haben das schon öfter getan und sind nicht erwischt worden. Mrs Horton war nach allem, was ich so gehört habe, eine Frau, die jeder Mann gern losgewesen wäre! Und durch ihren Tod soll er auch einiges geerbt haben.»
«Ja, das stimmt.»
«Was denken Sie, Miss Waynflete?»
«Sie wollen meine Ansicht hören?»
«Ja, nur Ihre Ansicht.»
Miss Waynflete sagte ruhig und bedachtsam:
«Meiner Ansicht nach war Major Horton seiner Frau ganz ergeben und hätte sich so etwas nicht im Traum einfallen lassen.»
Luke sah sie an und empfing einen sanften Blick, der nicht schwankte, als Erwiderung.
«Nun», sagte er, «vermutlich haben Sie recht. Sie wüssten es wahrscheinlich, wenn es anders wäre.»
Miss Waynflete gestattete sich ein Lächeln.
«Wir Frauen sind gute Beobachter, meinen Sie?»
«Absolut erstklassig. Hätte Miss Pinkerton wohl mit Ihnen übereingestimmt, glauben Sie?»
«Ich hörte Lavinia nie eine Meinung äußern, soweit ich mich erinnere.»
«Was dachte sie über Amy Gibbs?»
Miss Waynflete zog die Stirn nachdenklich zusammen. «Das ist schwer zu sagen. Lavinia hegte eine seltsame Idee.»
«Was für eine Idee?»
«Sie dachte, dass in Wychwood etwas Merkwürdiges vorginge.»
«Sie dachte zum Beispiel, dass jemand Tommy Pierce aus jenem Fenster gestoßen habe?»
Miss Waynflete starrte ihn erstaunt an.
«Woher wissen Sie das, Mr Fitzwilliam?»
«Sie sagte es mir. Nicht in eben diesen Worten, aber dem Sinn nach.»
Miss Waynflete beugte sich mit vor Erregung geröteten Wangen vor.
«Wann war das, Mr Fitzwilliam?»
Luke sagte ruhig: «An dem Tag, an dem sie getötet wurde. Wir reisten miteinander nach London.»
«Was genau sagte sie Ihnen?»
«Sie erklärte mir, dass zu viele Todesfälle in Wychwood gewesen seien. Sie erwähnte Amy Gibbs, Tommy Pierce und Carter. Sie sagte auch, dass Dr. Humbleby der nächste sein würde, der drankäme.»
Miss Waynflete nickte langsam.
«Hat sie Ihnen gesagt, wer dafür verantwortlich ist?»
«Ein Mann mit einem gewissen Blick in den Augen», sagte Luke grimmig. «Einem Blick, der nicht misszuverstehen war, sagte sie. Sie hatte jenen Blick in seinen Augen gesehen, während er mit Humbleby sprach. Deshalb sagte sie, Humbleby würde der nächste sein.»
«Und er war es», flüsterte Miss Waynflete. «O Gott, o Gott!» Sie lehnte sich tief betroffenen Blicks zurück.
«Wer war der Mann?» sagte Luke. «Reden Sie, Miss Waynflete, Sie wissen es, Sie müssen es wissen!»
«Ich weiß es nicht. Sie hat mir nichts gesagt!»
«Aber Sie können es erraten», meinte Luke eifrig. «Sie wissen sicher genau, an wen sie dachte.»
Widerstrebend neigte Miss Waynflete den Kopf.
«Dann sagen Sie es mir.»
Aber Miss Waynflete schüttelte energisch den Kopf.
«Nein, gewiss nicht. Sie verlangen von mir, dass ich etwas tue, was im höchsten Grad ungehörig ist! Sie verlangen, ich soll erraten, was vielleicht – nur vielleicht, merken Sie wohl! – eine Freundin, die nun tot ist, im Sinn hatte. Eine derartige Anklage könnte ich nicht erheben!»
«Es wäre keine Anklage – nur eine Vermutung.»
Aber Miss Waynflete blieb unerwartet fest.
«Ich habe nichts, an das ich mich halten könnte. Lavinia hat mir tatsächlich nie etwas gesagt. Ich mag denken, dass sie eine gewisse Vermutung hatte – aber sehen Sie, ich kann ja auch vollkommen unrecht haben. Und dann hätte ich Sie irregeführt, und es könnte vielleicht schlimme Folgen haben. Es wäre sehr schlecht und unrichtig von mir, einen Namen zu nennen. Und ich kann ja ganz, ganz unrecht haben! Tatsächlich habe ich wahrscheinlich unrecht!»
Und Miss Waynflete presste ihre Lippen fest aufeinander und schaute Luke mit grimmiger Entschlossenheit an. Luke verstand es, sich geschlagen zu geben.
Er machte sich klar, dass Miss Waynfletes redlicher Sinn und noch etwas, das ihm vorläufig schleierhaft war, sich gegen ihn verbündeten.
Also akzeptierte er seine Niederlage mit Anstand und erhob sich, um sich zu empfehlen. Er hatte wohl die Absicht, später auf den Gegenstand zurückzukommen, hütete sich jedoch, durch sein Benehmen etwas von diesem Vorsatz zu verraten. «Sie müssen natürlich tun, was Sie für richtig halten», sagte er. «Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe.»
Miss Waynflete schien ein wenig von ihrer Sicherheit einzubüßen, während sie ihn zur Türe begleitete.
«Ich hoffe, Sie denken nicht…», begann sie, ließ ihren Satz aber unvollendet und fuhr fort: «Wenn ich Ihnen in irgendetwas anderem helfen kann, bitte, bitte, lassen Sie es mich wissen.»
«Gewiss. Sie werden unser Gespräch für sich behalten?»