Dr. Thomas strich sich nachdenklich das Kinn.
«Nun – das müsste Sie ja zufrieden stellen. Wenn es sich herausstellt, dass Sie sich geirrt haben – »
Luke unterbrach ihn.
«Sie glauben wirklich kein Wort von alldem?»
«Über Mord en gros?» Dr. Thomas hob die Augenbrauen. «Offen gestanden, Mr Fitzwilliam, nein. Die Sache ist zu phantastisch.»
«Phantastisch vielleicht, aber sie ist logisch, das müssen Sie zugeben, sobald Sie Miss Pinkertons Geschichte als wahr annehmen.»
Dr. Thomas schüttelte den Kopf, ein leichtes Lächeln trat auf seine Lippen.
«Wenn Sie einige von diesen alten Jungfern so gut kennen würden wie ich!» murmelte er.
Luke erhob sich, bemüht, seinen Ärger nicht zu zeigen. «Jedenfalls sind Sie treffend charakterisiert worden», sagte er. «Ein ungläubiger Thomas, wenn es je einen gab!»
Thomas erwiderte gutgelaunt:
«Bringen Sie mir ein paar Beweise, mein Lieber, mehr verlange ich nicht. Nicht nur eine lange melodramatische Erzählung, begründet mit dem, was eine alte Dame sich einbildete gesehen zu haben!»
«Was alte Damen sich einbilden zu sehen, ist oft sehr richtig. Meine Tante Mildred war geradezu unheimlich! Haben Sie selbst Tanten, Thomas?»
«Nein.»
«Ein Versehen!» sagte Luke. «Jedermann sollte Tanten haben. Sie bezeugen den Triumph des Erratens über die Logik. Tanten ist es vorbehalten, zu wissen, dass Mr A. ein Schurke ist, weil er einem unehrlichen Diener ähnlich sieht, den sie einmal hatten. Andere Leute sagen vernünftigerweise, dass ein achtbarer Herr wie Mr A. kein Gauner sein kann. Und die alten Damen behalten jedes Mal recht.»
Dr. Thomas lächelte wieder sein überlegenes Lächeln. Luke fühlte, wie seine Erbitterung wieder wuchs, und sagte: «Wissen Sie nicht, dass ich auch ein Polizeimann bin? Ich bin kein blutiger Dilettant!»
Dr. Thomas lächelte und murmelte: «Im Osten!»
«Verbrechen ist Verbrechen – auch im Osten.»
«Natürlich – natürlich.»
Luke verließ das Ordinationszimmer von Dr. Thomas in einem Zustand unterdrückter Gereiztheit.
Er traf Bridget, die fragte:
«Nun, wie ist es gegangen?»
«Er glaubt mir nicht. Was einen, wenn man sich’s recht überlegt, kaum überraschen kann. Es ist ja eine tolle Geschichte ohne Beweise. Dr. Thomas gehört entschieden nicht zu den Menschen, die schon vor dem Frühstück sechs unmögliche Sachen glauben!»
«Wird dir überhaupt jemand glauben?»
«Wahrscheinlich nicht, aber wenn ich morgen den alten Billy Bones erwische, werden sich die Räder in Bewegung setzen. Er wird unserem langhaarigen Freund Ellsworthy nachforschen, und am Ende wird man schon zu einem Resultat kommen.»
Bridget sagte nachdenklich:
«Wir zeigen da aber unsere Karten ziemlich offen, nicht wahr?»
«Wir müssen es tun. Wir können es einfach nicht zu noch mehr Morden kommen lassen.»
Bridget schauerte.
«Gib um Gottes willen acht, Luke!»
«Ich gebe schon acht. Komme Torpfeilern mit Ananas obendrauf nicht in die Nähe, meide am Abend den einsamen Wald, passe auf, was ich esse und trinke. Ich kenne das alles.»
«Es ist schrecklich zu fühlen, dass du ein Gezeichneter bist.»
«Solange nur du, mein Liebes, nicht eine Gezeichnete bist!»
«Vielleicht bin ich es.»
«Ich glaube nicht. Doch ich beabsichtige nicht, etwas zu riskieren! Ich wache über dich wie ein guter, alter Schutzengel!»
«Würde es etwas nützen, der Polizei hier etwas zu sagen?» Luke überlegte.
«Nein, ich glaube nicht – es ist besser, direkt zu Scotland Yard zu gehen.»
Bridget murmelte:
«Das hat Miss Pinkerton auch gedacht.»
«Ja, aber ich werde auf der Hut sein.»
Bridget sagte:
«Ich weiß, was ich morgen tue. Ich werde Gordon in den Laden von dem Kerl schleppen und ihn veranlassen, etwas zu kaufen.»
«Um auf diese Weise sicherzugehen, dass unser Mr Ellsworthy mir nicht auf den Stufen von Whitehall auflauert?»
«Genau.»
Luke sagte etwas verlegen: «Wegen Whitfield – »
Bridget fiel ihm ins Wort:
«Lassen wir es, bis du morgen zurückkommst. Dann werde ich mit ihm sprechen.»
«Wird er sehr traurig sein?»
«Nun…»Bridget überlegte. «Er wird ärgerlich sein.»
«Ärgerlich? Guter Gott! Ist das nicht etwas schwach ausgedrückt?»
«Nein. Denn weißt du, Gordon mag nicht ärgerlich sein, es bringt ihn aus der Fassung.»
Luke sagte ernst: «Mir ist recht unbehaglich bei der ganzen Sache.»
Dieses Gefühl beherrschte ihn vor allem, als er sich an dem Abend bereit machte, zum zwanzigsten Mal Lord Whitfield über das Thema Lord Whitfield sprechen zu hören. Es war, gab er zu, irgendwie schäbig, Gast eines Mannes zu sein und ihm die Braut zu stehlen. Er war jedoch der Ansicht, dass ein dickbäuchiger, prahlerisch einherstolzierender Einfaltspinsel wie der kleine Lord Whitfield nie um Bridget hätte werben dürfen!
Sein Gewissen bedrückte ihn jedoch so weit, dass er mit besonders inbrünstiger Aufmerksamkeit lauschte und infolgedessen bei seinem Gastgeber einen äußerst günstigen Eindruck hervorrief.
Lord Whitfield war diesen Abend besonders guter Laune. Der Tod seines einstigen Chauffeurs schien ihn eher befriedigt als betrübt zu haben.
«Ich habe Ihnen gesagt, der Bursche würde ein schlechtes Ende nehmen», triumphierte er, ein Glas Portwein gegen das Licht haltend und hindurchschielend. «Hab ich’s Ihnen gestern abend nicht gesagt?»
«Ja, gewiss.»
«Und Sie sehen, dass ich recht hatte! Es ist erstaunlich, wie oft ich recht habe!»
«Das muss wundervoll sein für Sie», sagte Luke.
«Ich habe immer ein wundervolles Leben gehabt – ja, ein wundervolles Leben! Mein Lebensweg wurde für mich geebnet. Ich hatte immer viel Vertrauen in die Vorsehung und einen starken Glauben. Das ist das Geheimnis, Fitzwilliam, das ist das Geheimnis.»
«Ja.»
«Ich bin ein gläubiger Mensch. Ich glaube an das Gute und das Böse und an die ewige Gerechtigkeit. Es gibt eine göttliche Gerechtigkeit, Fitzwilliam, daran ist nicht zu zweifeln!»
«Ich glaube auch an die Gerechtigkeit», sagte Luke.
Wie gewöhnlich interessierte sich Lord Whitfield nicht für den Glauben anderer Leute.
«Tue recht, und dein Schöpfer wird dir Recht widerfahren lassen! Ich war immer ein rechtschaffener Mensch. Ich habe für die Wohltätigkeit gespendet und mein Geld auf ehrliche Weise erworben. Ich bin keinem Menschen verpflichtet! Ich stehe allein.»
Luke unterdrückte ein Gähnen.
«Gewiss – gewiss.»
«Es ist merkwürdig – ganz merkwürdig», fuhr Lord Whitfield fort, «wie die Feinde eines rechtschaffenen Mannes vernichtet werden! Nehmen Sie nur diesen Burschen – schmäht mich, geht sogar so weit, die Hand gegen mich erheben zu wollen. Und was geschieht? Wo ist er heute?»
Er machte eine rhetorische Pause und antwortete sich dann selbst mit eindrucksvoller Stimme:
«Tot! Zerschmettert vom göttlichen Zorn!»
«Eine etwas harte Strafe für ein paar übereilte Worte, verursacht durch ein paar Glas Wein zuviel.»
Lord Whitfield schüttelte den Kopf.
«Es ist immer so! Die Vergeltung kommt rasch und schrecklich. Erinnern Sie sich doch an die Kinder, die Elias verspotteten – die Bären kamen und verschlangen sie. So geschehen die Dinge, Fitzwilliam.»
«Ich fand das immer übertrieben rachsüchtig.»
«Nein, nein. Sie betrachten das auf die falsche Weise. Elias war ein großer und heiliger Mann. Niemand durfte ihn verspotten und weiterleben! Ich verstehe das, weil mein Fall ähnlich liegt!»