Die beiden Männer redeten lang und ernsthaft miteinander. Am folgenden Morgen kehrte Luke nach Wychwood zurück. Er hätte schon am Abend vorher zurückfahren können, aber angesichts der Umstände hatte er eine starke Abneigung dagegen, unter Lord Whitfields Dach zu schlafen und seine Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen.
Auf der Fahrt durch Wychwood hielt er seinen Wagen vor Miss Waynfletes Häuschen an. Das Mädchen, das ihm die Tür öffnete, schaute ihn höchst erstaunt an, doch führte sie ihn in das kleine Esszimmer, wo Miss Waynflete beim Frühstück saß.
Sie erhob sich überrascht, um ihn zu begrüßen.
Er verlor keine Zeit.
«Ich muss mich entschuldigen, dass ich Sie zu dieser Stunde überfalle.»
Er sah sich um. Das Mädchen hatte das Zimmer verlassen und die Tür hinter sich zugemacht.
«Ich möchte eine Frage an Sie stellen, Miss Waynflete, die etwas persönlicher Natur ist, aber ich glaube, Sie werden mir das verzeihen.»
«Bitte fragen Sie mich, was Sie wollen. Ich bin ganz sicher, Sie haben einen guten Grund dazu.»
«Danke.»
Er machte eine Pause. Dann sagte er:
«Ich möchte genau wissen, warum Sie damals vor Jahren Ihre Verlobung mit Lord Whitfield gelöst haben.»
Das hatte sie nicht erwartet. Das Blut stieg ihr in die Wangen, und sie drückte die Hand auf die Brust.
«Hat er Ihnen etwas darüber gesagt?»
Luke erwiderte: «Er sagte mir, es war etwas mit einem Vogel – einem Vogel, dem der Hals umgedreht wurde…»
«Das sagte er?» Ihre Stimme klang verwundert: «Er gab es zu? Das ist merkwürdig.»
«Wollen Sie es mir sagen? Bitte!»
«Ja, ich will es Ihnen sagen. Aber ich bitte Sie, nie mit ihm über die Sache zu sprechen. Es ist alles vorbei – vergangen und erledigt – ich möchte nicht, dass es wieder – ausgegraben wird.»
Sie sah ihn bittend an.
Luke nickte.
«Es ist nur zu meiner persönlichen Befriedigung», sagte er. «Ich werde nichts weitersagen, was Sie mir erzählen.»
«Danke.» Sie hatte ihre Ruhe wiedergefunden, ihre Stimme klang ganz fest, als sie fortfuhr: «Es war so. Ich hatte einen kleinen Kanarienvogel – ich hatte ihn sehr gern – und – trieb es vielleicht etwas kindisch mit ihm – junge Mädchen waren damals so, so übertrieben mit ihren Lieblingen. Ich verstehe, dass das einen Mann irritieren musste.»
«Ja», sagte Luke ermunternd, als sie zögerte.
«Gordon war eifersüchtig auf den Vogel; eines Tages sagte er ganz verdrießlich: ‹Ich glaube, du ziehst den Vogel mir vor!› Und ich, in etwas albern-mädchenhafter Weise, lachte, und während ich ihn auf dem Finger hielt, sagte ich ungefähr; (Natürlich liebe ich dich, kleines Vögelchen, mehr als den großen dummen Jungen! Natürlich!) Da – oh, es war schrecklich – riss Gordon mir den Vogel weg und drehte ihm den Hals um! Es war so ein Schreck – ich werde es nie vergessen!»
Ihr Gesicht war jetzt totenblass.
«Und so lösten Sie Ihre Verlobung auf?» sagte Luke.
«Ja. Ich konnte danach nicht mehr dasselbe für ihn empfinden. Wissen Sie, Mr Fitzwilliam – » Sie zögerte. «Es war nicht allein die Tat – das hätte in einem Anfall von Eifersucht und Zorn geschehen können –, es war das schreckliche Gefühl, das ich hatte, dass er es mit Genuss getan hatte – das war es, was mich erschreckte!»
«So lange her», murmelte Luke. «Sogar schon damals…»
Sie legte ihre Hand auf seinen Arm.
«Mr Fitzwilliam – »
Er erwiderte die erschrockene Frage ihrer Augen mit einem ernsten, festen Blick.
«Es ist Lord Whitfield, der alle diese Morde begangen hat!» sagte er. «Sie haben es die ganze Zeit gewusst, nicht wahr!»
Sie schüttelte energisch den Kopf.
«Nicht gewusst! Wenn ich es gewusst hätte, dann – dann hätte ich natürlich gesprochen – nein, es war nur eine Furcht.»
«Und doch gaben Sie mir nie einen Wink?»
Sie faltete die Hände in jäher Qual.
«Wie hätte ich das können? Wie denn? Ich habe ihn doch einmal sehr gern gehabt…»
«Ja», sagte Luke sanft. «Ich verstehe.»
Sie wandte sich ab, suchte in ihrer Handtasche herum und drückte schließlich ein kleines spitzenbesetztes Tüchlein an die Augen. Dann wandte sie sich wieder um, trockenen Auges, gefasst und würdevoll.
«Ich bin so froh», sagte sie, «dass Bridget ihre Verlobung aufgelöst hat. Sie wird Sie heiraten, nicht wahr?»
«Ja.»
«Das ist auch viel passender», meinte Miss Waynflete billigend.
Luke konnte nicht umhin, ein wenig zu lächeln.
Aber Miss Waynfletes Gesicht wurde ernst und besorgt. Sie beugte sich vor und legte wieder ihre Hand auf seinen Arm. «Aber seien Sie sehr vorsichtig. Sie müssen beide sehr achtgeben.»
«Sie meinen – mit Lord Whitfield?»
«Ja. Es wäre besser, es ihm nicht zu sagen.»
Luke runzelte die Stirn.
«Das, glaube ich, würde keinem von uns beiden passen.»
«Ach, was tut das? Sie scheinen nicht zu begreifen, dass er verrückt ist – verrückt! Er wird es sich nicht gefallen lassen – nicht einen Augenblick! Wenn ihr etwas geschieht – »
«Nichts wird ihr geschehen!»
«Ja, ich weiß – aber machen Sie sich doch klar, dass Sie ihm nicht gewachsen sind! Er ist so entsetzlich schlau! Bringen Sie sie gleich fort – es ist die einzige Hoffnung! Veranlassen Sie sie zu verreisen – ins Ausland! Sie sollten beide ins Ausland fahren!»
Luke sagte langsam:
«Vielleicht wäre es gut, wenn sie führe. Ich werde bleiben.»
«Das habe ich befürchtet. Aber jedenfalls bringen Sie sie fort. Sofort, hören Sie?»
Luke nickte langsam.
«Ich glaube, Sie haben recht», sagte er.
«Ich weiß, dass ich recht habe! Bringen Sie sie fort – bevor es zu spät ist!»
20
Bridget hörte Luke heranfahren; sie kam heraus, um ihn abzufangen.
Sie sagte ohne Einleitung:
«Ich habe es ihm erzählt.»
«Was?»
Luke erschrak.
Seine Bestürzung war so offenbar, dass Bridget fragte: «Luke – was ist denn? Du scheinst ganz fassungslos.»
Er sagte langsam:
«Ich dachte, wir wollten warten, bis ich zurückkomme.»
«Ich weiß, aber ich dachte, es sei besser, es hinter mir zu haben. Außerdem – er machte Pläne – für unsere Heirat – unsere Hochzeitsreise – all das! Ich musste es ihm einfach sagen!»
Sie fügte – einen leisen Vorwurf in der Stimme – hinzu:
«Es war das einzig Anständige, was ich tun konnte.»
Er erkannte das an.
«Von deinem Standpunkt aus, ja. O ja, das sehe ich ein.»
«Von jedem Standpunkt aus, hätte ich gedacht!»
Luke sagte langsam:
«Es gibt Zeiten, wo man sich Anständigkeit nicht leisten kann!»
«Luke, was meinst du nur?»
Er machte eine ungeduldige Bewegung.
«Das kann ich dir jetzt und hier nicht sagen. Wie hat Whitfield es aufgenommen?»
«Außerordentlich gut. Wirklich, außerordentlich gut. Ich schämte mich. Ich glaube, Luke, dass ich Gordon unterschätzt habe – nur weil er so hochtrabend ist und oft viel schwätzt. Ich glaube wirklich, er ist – nun – ein großer kleiner Mann!»
Luke nickte.
«Ja, möglicherweise ist er ein großer Mann – auf eine Art, die wir nicht ahnten. Hör mal, Bridget, du musst sobald wie möglich hier weg.»
«Natürlich. Ich packe meine Sachen und gehe noch heute fort. Du könntest mich in die Stadt fahren. Ich vermute, wir können nicht beide in der ‹Scheckigen Glocke› absteigen – das heißt, wenn die Ellsworthy-Gesellschaft fort ist?»
Luke schüttelte den Kopf.
«Nein, es ist besser, du gehst nach London. Ich werde dir später alles erklären. Mittlerweile muss ich wohl mit Whitfield sprechen.»