Mit all ihrer jugendlichen Kraft sprang Bridget auf und warf sich wie eine Tigerkatze mit voller Gewalt auf die andere, stieß sie zurück und packte sie am rechten Handgelenk. Von dem Überfall überrascht, wich Honoria Waynflete zurück. Doch nur einen Augenblick blieb sie untätig, dann begann sie zu kämpfen. Hinsichtlich der Kraft waren sie nicht zu vergleichen. Bridget war jung und gesund und hatte vom Sport gestählte Muskeln. Honoria Waynflete war ein schlank gebautes, schwaches Geschöpf.
Aber mit einem Faktor hatte Bridget nicht gerechnet: Honoria Waynflete war geistig nicht normal. Ihre Kraft war die Kraft einer Wahnsinnigen. Sie kämpfte wie ein Teufel, und ihre irrsinnige Kraft war größer als die gesunde Muskelkraft von Bridget. Sie wankten hin und her, und immer mühte Bridget sich, ihr das Messer zu entreißen, und immer noch umklammerte es Honoria Waynflete.
Und dann gewann nach und nach die Kraft der Irrsinnigen die Oberhand. Nun schrie Bridget:
«Luke… Hilfe… Hilfe…»
Aber sie hatte keine Hoffnung, dass Hilfe kommen würde. Sie und Honoria Waynflete waren allein, allein in einer toten Welt. Mit höchster Anstrengung riss sie das Handgelenk der anderen zurück, und endlich hörte sie das Messer niederfallen.
Im nächsten Augenblick hatten sich Honoria Waynfletes Hände mit wahnsinnigem Zugriff um ihren Hals geklammert und pressten ihr das Leben ab. Sie stieß einen letzten halberstickten Schrei aus…
23
Luke war angenehm überrascht von der Erscheinung Superintendent Battles. Er war ein starker, behaglich aussehender Mann mit breitem, rotem Gesicht und einem großen, schönen Schnurrbart. Auf den ersten Blick blitzte einem nicht gerade ein glänzender Geist entgegen, aber bei näherem Hinsehen entdeckte man, dass seine Augen außergewöhnlich klug in die Welt blickten.
Luke beging nicht den Fehler, ihn zu unterschätzen. Er hatte Männer dieser Art schon öfter getroffen und wusste, dass man ihnen vertrauen konnte und dass sie immer Erfolg hatten. Er hätte sich keinen Besseren für diesen Fall wünschen können.
Als sie allein waren, sagte Luke:
«Da hat man mit Ihnen aber ein großes Tier geschickt!»
Superintendent Battle lächelte.
«Es kann sich ja auch um eine große Sache handeln, Mr Fitzwilliam. Wenn es vielleicht um einen Mann wie Lord Whitfield geht, dürfen wir keinen Fehler machen.»
«Das verstehe ich. Sind Sie allein?»
«O nein. Ich habe einen Sergeant mit. Er ist im anderen Wirtshaus, und seine Aufgabe ist es, ein Auge auf Seine Lordschaft zu haben.»
«Ich verstehe.»
Battle fragte:
«Ihrer Meinung nach, Mr Fitzwilliam, gibt es keinen Zweifel? Sie sind sich Ihrer Sache sicher?»
«Nach den Tatsachen sehe ich keine Möglichkeit einer anderen Annahme. Soll ich Ihnen die Tatsachen mitteilen?»
«Danke, ich habe sie schon von Sir William erfahren.»
«Nun, und was denken Sie? Ich vermute, dass es Ihnen als ganz unwahrscheinlich erscheint, dass ein Mann wie Lord Whitfield ein Mörder sein soll?»
«Sehr wenige Dinge kommen mir unwahrscheinlich vor», erwiderte Superintendent Battle. «Was Verbrechen betrifft, ist nichts unmöglich; das habe ich immer gesagt. Wenn Sie mir sagen würden, dass eine liebe alte, unverheiratete Dame oder ein Erzbischof oder ein Schulmädchen ein gefährlicher Verbrecher ist, würde ich nicht widersprechen, sondern den Fall untersuchen.»
«Wenn Sie die Haupttatsachen von Sir William gehört haben, will ich Ihnen nur noch erzählen, was sich heute früh ereignet hat», sagte Luke.
Er schilderte kurz die Szene mit Lord Whitfield. Superintendent Battle hörte aufmerksam zu.
«Sie sagen, er betastete ein Messer. Drohte er damit?»
«Nicht offen. Er probierte die Schneide in etwas unangenehmer Weise – mit einer Art von ästhetischem Vergnügen, das mir nicht gefiel. Miss Waynflete hatte dieselbe Empfindung, glaube ich.»
«Das ist die Dame, von der Sie sprachen – die Lord Whitfield ihr Leben lang kannte und einmal mit ihm verlobt war?»
«Ganz richtig.»
Superintendent Battle sagte:
«Ich glaube, Sie können im Hinblick auf die junge Dame ganz beruhigt sein, Mr Fitzwilliam. Ich werde jemanden beauftragen, scharf über sie zu wachen.»
«Sie nehmen mir eine große Last vom Herzen», gestand Luke.
Der Superintendent nickte verständnisvoll.
«Es ist eine unangenehme Lage für Sie, Mr Fitzwilliam. Die Sorge um Miss Conway. Und wissen Sie, ich erwarte nicht, dass dies ein leichter Fall werden wird. Lord Whitfield muss ein sehr kluger Mann sein. Er wird sich jetzt wahrscheinlich lange Zeit nicht rühren. Das heißt, außer er ist im letzten Stadium.»
«Was nennen Sie das letzte Stadium?»
«Eine Art von Größenwahn, wo der Verbrecher glaubt, er könne nicht entdeckt werden! Er ist zu gescheit, und alle anderen sind zu dumm! Dann kriegen wir ihn natürlich!»
Luke nickte. Er erhob sich.
«Nun, ich wünsche Ihnen alles Glück», sagte er. «Lassen Sie mich Ihnen, so gut ich kann, helfen.»
«Gewiss.»
«Augenblicklich kann ich nichts tun?»
Battle überlegte.
«Ich glaube nicht; ich möchte mich erst ein wenig im Ort umsehen. Vielleicht könnte ich am Abend wieder mit Ihnen sprechen?»
«Natürlich.»
«Da werde ich genauer wissen, wo wir stehen.»
Luke fühlte sich etwas getröstet und beruhigt. Schon viele Leute hatten nach einer Unterredung mit dem Superintendent dieses Gefühl gehabt.
Er sah auf die Uhr. Sollte er noch vor dem Lunch Bridget besuchen?
Lieber nicht, dachte er. Miss Waynflete würde glauben, sie müsse ihn zur Mahlzeit auffordern, und das könnte ihren Haushalt in Verlegenheit bringen. Ältere Damen, wusste Luke aus seiner Erfahrung mit Tanten, kamen bei wirtschaftlichen Problemen leicht aus dem Gleichgewicht. Ob Miss Waynflete wohl auch eine Tante war? Wahrscheinlich.
Er war vor die Tür des Gasthauses getreten. Eine schwarz gekleidete Gestalt, die die Straße hinuntereilte, blieb plötzlich stehen, als sie ihn erblickte.
«Mr Fitzwilliam.»
«Mrs Humbleby.»
Er trat zu ihr und schüttelte ihr die Hand.
Sie sagte:
«Ich dachte, Sie seien abgereist?»
«Nein – ich habe nur die Wohnung gewechselt. Ich wohne jetzt hier.»
«Und Bridget? Ich höre, sie ist fort von Ashe Manor?»
«Ja, das ist sie.»
Mrs Humbleby seufzte.
«Ich bin so froh, sehr froh, dass sie von Wychwood fort ist.»
«Oh, sie ist noch hier; sie wohnt bei Miss Waynflete.»
Mrs Humbleby trat einen Schritt zurück; Luke sah erstaunt, dass sie außerordentlich bekümmert wirkte.
«Bei Honoria Waynflete wohnt sie? Ja, warum denn?»
«Miss Waynflete hat sie liebenswürdigerweise eingeladen, auf ein paar Tage zu ihr zu kommen.»
Mrs Humbleby schauerte ein wenig zusammen. Sie trat nahe an Luke heran und legte ihre Hand auf seinen Arm.
«Mr Fitzwilliam, ich weiß, ich habe kein Recht, etwas zu sagen – irgendetwas zu sagen. Ich habe in letzter Zeit sehr viel Kummer und Leid erlebt – vielleicht macht mich das etwas wunderlich! Meine Gefühle sind möglicherweise nur krankhafte Einbildungen.»
Luke sagte sanft:
«Welche Gefühle?»
«Diese Überzeugung, die ich habe – von – von etwas Bösem!»
Sie schaute Luke schüchtern an. Da sie sah, dass er bloß ernst den Kopf neigte und keinen Zweifel an ihrer Behauptung zu hegen schien, fuhr sie fort:
«So viel Schlechtigkeit – das ist der Gedanke, der mich nie verlässt – soviel Schlechtigkeit ist hier in Wychwood! Und diese Frau steckt hinter allem, dessen bin ich sicher!»
Luke verstand nicht.
«Welche Frau?»
Mrs Humbleby sagte: