«Ach nein», meinte Miss Waynflete, «wie interessant!» Und sie lächelte ihn freundlich aufmunternd an.
Sie erinnerte ihn an Miss Pinkerton.
«Ich dachte», fuhr Bridget fort, und wieder bemerkte er jenen unnatürlichen Ton in ihrer Stimme – «dass Sie ihm etwas über Amy erzählen könnten.»
«Oh», sagte Miss Waynflete, «über Amy. Ja. Über Amy Gibbs.»
Er bemerkte etwas Neues in ihrem Gesichtsausdruck, sie schien ihn nachdenklich-abschätzend zu betrachten. Dann, als habe sie einen Entschluss gefasst, ging sie ins Haus zurück.
«Kommen Sie doch herein», forderte sie auf. «Ich kann auch später ausgehen. Nein, nein», als Antwort auf einen Einwand von Luke. «Ich hatte wirklich nichts Dringendes vor, nur ganz unwichtige Besorgungen.»
Das kleine Wohnzimmer war sauber und gemütlich und roch schwach nach verbranntem Lavendel. Auf dem Kaminsims standen einige Meißner Porzellanschäfer und -schäferinnen und lächelten süß. Gerahmte Aquarelle und Stickmuster hingen an der Wand. Mehrere Fotografien, offenbar von Neffen und Nichten, standen da und einige gute Möbelstücke, jedoch auch ein scheußliches und ziemlich unbequemes Sofa aus der Zeit der Queen Victoria.
Miss Waynflete bat ihre Besucher, Platz zu nehmen. Auf einem Stuhl mit geschnitzten Armlehnen sehr aufrecht dasitzend, studierte sie ihren Gast ein paar Augenblicke, dann senkte sie scheinbar befriedigt die Augenlider und sagte:
«Sie wollen etwas über das arme Mädchen, die Amy, wissen? Die ganze Sache hat mich sehr bekümmert. So ein tragischer Irrtum!»
«War nicht die Rede von – Selbstmord?» fragte Luke. Miss Waynflete schüttelte den Kopf.
«Nein, nein, das kann ich nicht einen Augenblick glauben. Amy war gar nicht von dieser Art.»
«Von welcher Art war sie denn?» fragte Luke geradeheraus. «Ich würde gern Ihre Ansicht über sie hören.»
Miss Waynflete hielt mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg: «Nun, sie war erstens absolut kein gutes Hausmädchen, doch ist man heutzutage ja froh, überhaupt jemanden zu bekommen. Sie war sehr nachlässig in der Arbeit und wollte immer ausgehen – freilich, sie war jung, und die Mädchen sind heute nun mal so, sie scheinen nicht zu begreifen, dass ihre Zeit ihren Dienstherren gehört.»
Luke sah, wie es sich ziemte, verständnisvoll drein, und Miss Waynflete fuhr fort, ihre Ansichten zu entwickeln. «Sie war nicht die Art Mädchen, die mir sympathisch ist – hatte eine so dreiste Art –, obwohl ich natürlich jetzt, wo sie tot ist, nicht viel sagen möchte. Man fühlt sich so unchristlich – obwohl ich eigentlich nicht finde, dass das ein Grund ist, die Wahrheit zu verschweigen.»
Luke nickte. Ihm wurde klar, dass Miss Waynflete sich dadurch von Miss Pinkerton unterschied, dass sie logischer dachte.
«Sie liebte es, bewundert zu werden», fuhr Miss Waynflete fort, «und neigte dazu, sich sehr viel einzubilden. Mr Ellsworthy – er hat den neuen Antiquitätenladen, ist aber wirklich ein Gentleman – malt ein wenig und hat ein paar Skizzen von ihrem Kopf gemacht – und ich glaube, wissen Sie, das hat ihr Rosinen in den Kopf gesetzt. Sie begann Streit mit dem jungen Mann, Jim Harvey, mit dem sie verlobt war. Er ist Mechaniker in der Garage hier und hatte sie sehr gern.»
Miss Waynflete machte eine Pause und fuhr dann fort:
«Ich werde diese schreckliche Nacht nie vergessen. Amy war nicht ganz wohl – sie hatte einen garstigen Husten, war überhaupt erkältet (diese neumodischen billigen Seidenstrümpfe und die Schuhe mit Sohlen wie Papier, da muss man sich ja erkälten!), und sie war auch am Nachmittag beim Doktor gewesen.»
Luke fragte rasch dazwischen:
«Bei Dr. Humbleby oder Dr. Thomas?»
«Dr. Thomas. Und er gab ihr eine Flasche mit Hustensaft, die sie mitbrachte, etwas ganz Harmloses. Sie ging frühzeitig zu Bett, und es muss ungefähr ein Uhr nachts gewesen sein, als der Lärm begann – eine Art schrecklicher, erstickter Schrei. Ich stand auf und ging zu ihrer Tür, aber die war von innen versperrt. Ich rief ihren Namen, bekam jedoch keine Antwort. Die Köchin war mit mir, und wir waren beide fürchterlich aufgeregt. Dann gingen wir zur Haustür, und glücklicherweise kam gerade Reed (unser Polizist) vorbei, und wir hielten ihn an. Er ging hinten um das Haus herum, und es gelang ihm, auf das Dach des Nebengebäudes zu klettern, und da ihr Fenster offen war, kam er ganz leicht hinein und sperrte die Tür auf. Armes Ding, es war schrecklich! Man konnte gar nichts für sie tun, und sie starb nach ein paar Stunden im Krankenhaus.»
«Und es war – Hutfarbe?»
«Ja. Kleesäurevergiftung nannten sie es. Die Flasche hatte ungefähr die gleiche Größe wie die mit dem Hustensaft. Letztere stand auf dem Waschtisch und die Hutfarbe neben dem Bett. Sie muss im Dunkeln die falsche Flasche erwischt und neben sich gestellt haben für den Fall, dass sie sich schlecht fühlte. Das wurde bei der gerichtlichen Untersuchung angenommen.»
Miss Waynflete hielt inne. Ihre klugen Ziegenaugen sahen ihn an, und es war ihm, als läge eine besondere Bedeutsamkeit in ihrem Blick. Er hatte das Gefühl, dass sie einen Teil der Geschichte verschwiegen hatte – und das noch stärkere Gefühl, dass sie aus irgendeinem Grund wünschte, dass er das wisse.
Es entstand ein Schweigen – ein langes, etwas schwieriges Schweigen. Luke kam sich vor wie ein Schauspieler, der sein Stichwort nicht kennt. «Und Sie halten es nicht für Selbstmord?» vergewisserte er sich schließlich noch mal.
Miss Waynflete erwiderte rasch:
«Bestimmt nicht. Wenn das Mädchen beschlossen hätte, sich umzubringen, hätte sie wahrscheinlich etwas dafür gekauft. Das hier war eine alte Flasche, die sie seit Jahren gehabt haben muss. Und überhaupt war sie, wie ich schon sagte, nicht so eine Art Mädchen.»
«Also denken Sie – was?» fragte Luke geradeheraus.
«Ich denke, dass es ein großes Malheur war.»
Sie schloss die Lippen und sah ihn ernst an.
Als Luke eben fühlte, dass er unbedingt versuchen müsse, etwas zu sagen, was von ihm erwartet wurde, kam eine Ablenkung; es wurde an der Tür gekratzt, und ein klägliches Miau ertönte.
Miss Waynflete sprang auf und öffnete die Tür, woraufhin ein prachtvoller orangefarbener Angorakater hereinspazierte. Er hielt inne, sah den Besuch missbilligend an und sprang auf die Lehne von Miss Waynfletes Stuhl.
Sie sprach zärtlich zu ihm.
«Ja, Wonky Pooh – wo war denn mein Wonky Pooh den ganzen Morgen?»
Der Name weckte eine Erinnerung in Luke; wo hatte er nur von einem Angorakater gehört, der Wonky Pooh hieß? Er sagte:
«Das ist aber ein besonders schöner Kater. Haben Sie ihn schon lange?»
Miss Waynflete schüttelte den Kopf.
«O nein, er gehörte einer alten Freundin von mir, Miss Pinkerton. Sie wurde von einem dieser schrecklichen Autos überfahren, und ich konnte Wonky Pooh natürlich nicht Fremden überlassen, das hätte Lavinia fürchterlich gekränkt; sie hatte ihn geradezu angebetet – er ist aber wirklich sehr schön, nicht?»
Luke beeilte sich, seiner Bewunderung nochmals Ausdruck zu verleihen.
Miss Waynflete sagte: «Geben Sie acht auf seine Ohren, damit hat er in letzter Zeit Probleme.»
Luke streichelte das Tier vorsichtig.
Bridget erhob sich.
«Wir müssen gehen.»
Miss Waynflete schüttelte Luke die Hand.
«Vielleicht», sagte sie, «werde ich Sie schon bald Wiedersehen.»
Luke meinte freundlich: «Ja, gewiss, ich hoffe es.»
Er fand, dass sie verwirrt und ein wenig enttäuscht aussah. Ihr Blick flog zu Bridget – ein rascher Blick mit der Andeutung einer Frage. Luke fühlte, dass zwischen den beiden Frauen ein Einverständnis herrschte, von dem er ausgeschlossen war. Es ärgerte ihn, und er nahm sich vor, der Sache bald auf den Grund zu kommen.
Miss Waynflete ging mit ihnen hinaus. Luke blieb einen Augenblick auf der obersten Stufe stehen und betrachtete beifällig Dorfplatz und Ententeich.