Ben riß entsetzt die Augen auf und starrte Trautman an. »Sie wollen doch nicht etwa dort hineingehen und ihn suchen?« keuchte er.
»Hast du eine bessere Idee?« fragte Mike. Er machte eine ausholende Bewegung, die die freigebliebene Fläche einschloß. »Du kannst natürlich hierbleiben und darauf warten, daß ein Wunder geschieht«, sagte er. »Aber ich fürchte eher, daß du erfrieren wirst - oder verhungern. Ich gehe jedenfalls und suche Singh. « Ben wurde noch bleicher, aber Trautman sagte: »Also gut. Gehen wir. Aber bleibt dicht zusammen. Wenn wir uns in diesem Nebel verlieren, finden wir uns nie mehr wieder. «
Sie hatten sich an den Händen ergriffen und formten so eine Kette, deren Anfang Trautman und dessen Ende Juan bildeten, aber der Nebel wurde bald so dicht, daß Mike nicht einmal mehr den vor ihm gehenden Ben wirklich erkennen konnte. Er fühlte seine Hand, und er sah einen verschwommenen dunklen Umriß vor sich, aber mehr nicht. Und der Nebel verschluckte nicht nur jedes bißchen Licht, er schien auch ihre Stimmen aufzusaugen. Sie riefen immer wieder Singhs Namen, doch das einzige, was Mike hörte, war seine eigene Stimme: kein Echo, nicht die Rufe der anderen. Er hätte nicht einmal sagen können, wie lange sie durch diesen Nebel stolperten. Vielleicht Stunden, vielleicht nur Minuten. Es war, als bewegte er sich durch einen Traum, in dem die Wirklichkeit zu grauer Irrealität zerrann, und er hätte sich nicht einmal mehr gewundert, hätte er sich schließlich selbst in diesem Universum aus wogendem Grau aufgelöst. Statt dessen begann sich der Nebel schließlich zu lichten. Mike konnte noch immer nicht viel weiter als einige Schritte sehen, aber er erkannte nun zumindest Ben wieder deutlich und auch die vor ihm gehende Serena. Und dann fiel ihm auf, daß ihm etwas Feuchtes über sein Gesicht lief, und als er Bens Hand losließ und sich über die Wange fuhr, da schimmerten ein paar Wassertropfen auf seinem Handschuh.
»He!« protestierte Ben. »Wieso läßt du mich los?« Mike griff hastig wieder nach seiner Hand, und sie gingen weiter, aber er konnte nun sehen, wie sich auch in Bens Pelzjacke immer mehr winzige schimmernde Wassertröpfchen bildeten. Und noch etwas: Als Ben sich gerade zu ihm herumgedreht hatte, da hatte er zum ersten Mal seit Stunden jemanden reden sehen, ohne daß sein Atem als grauer Dampf im Rhythmus der Worte vor seinem Gesicht erschien. »Es wird wärmer«, rief Trautman in diesem Moment vom Anfang der Gruppe her. »Merkt ihr es auch?« Der Nebel ließ seine Worte noch immer sonderbar dumpf und falsch klingen, aber er verschluckte sie nun nicht mehr vollkommen. Und je weiter sie gingen, desto mehr lichtete er sich. Bald konnten sie wieder zehn oder fünfzehn Meter weit sehen, so daß sie es nacheinander wagten, sich gegenseitig loszulassen, trotzdem aber dicht beieinander blieben.
Ganz allmählich begann sich das, was sie von ihrer Umgebung erkennen konnten, zu verändern. Unter ihren Stiefeln knirschte noch immer Eis, aber dazwischen schimmerte jetzt immer öfter der blanke Fels hindurch, und hier und da glaubte Mike sogar einen Tupfen Grün oder Braun zu erkennen. Und schließlich tauchten die ersten Bäume vor ihnen auf. Eigentlich waren es nur die Skelette von Bäumen. Blattlos und vielleicht schon vor Jahrtausenden zu Stein erstarrt, reckten sie sich wie vielfingrige schwarze Hände dem Himmel entgegen, der noch immer hinter einer grauen, undurchdringlichen Decke verborgen lag, und trotzdem atmete Mike bei ihrem Anblick hörbar auf, denn es waren die ersten Zeugen von Leben, auf die sie auf dieser eisigen Insel am Rand der Welt trafen. Und es blieben nicht die einzigen. Die Anzahl der Bäume nahm zu, so daß sie sich bald durch einen regelrechten Wald bewegten, und auch wenn er tot und vielleicht schon vor Urzeiten zu Stein erstarrt war, es gab Leben in ihm -ein paar Flecken kärgliches Moos hier, einige Grasbüschel da, erbärmlich wenig, aber auch genug, um zu zeigen wie hartnäckig das Leben selbst unter den ungünstigsten Umständen immer wieder Fuß zu fassen vermochte.
Sonderbarerweise schien der Anblick dieses Waldes Trautman eher zu beunruhigen. Sie waren immer langsamer gegangen, seit sie in den versteinerten Wald eingedrungen waren, und schließlich blieb Trautman stehen und sah sich aus eng zusammengekniffenen Augen um.
»Irgend etwas stimmt hier nicht«, murmelte er zum wiederholten Male. »Diesen Wald dürfte es gar nicht geben. Nicht so weit im Norden. Es ist viel zu kalt dafür. «
Genaugenommen war es das schon lange nicht mehr. Es war beständig wärmer geworden, und Mike fiel erst jetzt wirklich auf, daß er eigentlich schon seit einer geraumen Weile gar nicht mehr fror. Trotzdem sagte er: »Dieser Wald scheint sehr alt zu sein. Vielleicht Hunderte von Jahren oder sogar Tausende. « »Hier war es auch vor Tausenden von Jahren nicht wärmer«, behauptete Trautman. »Im Gegenteil. « »Seht mal, dort vorne!« rief Chris plötzlich. »Es wird heller. Der Nebel scheint sich zu verziehen. « Aller Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die Richtung, in die Chris' ausgestreckter Arm wies, und tatsächlich -vor ihnen schimmerte es heller durch die Baumstämme. Es war noch kein wirkliches Tageslicht, aber der Nebel war dort nicht mehr so dicht wie hier. Wortlos und weitaus rascher als bisher marschierten sie weiter. Die Bäume wurden immer dichter, und manchmal mußten sie jetzt mitten durch die Skelette ebenfalls versteinerter Büsche hindurch, die wie Glas unter ihren Schritten zerbrachen, aber nach weiteren dreißig oder vierzig Schritten hörte der Wald plötzlich wie abgeschnitten auf, und als sie zwischen den letzten Bäumen hervortraten, da hatten sie auch den Rand des Nebels erreicht, und vor ihnen lag... Mike rieb sich verblüfft mit den behandschuhten Fingern über die Augen, nahm die Hände herunter, blinzelte, blinzelte noch einmal und schloß schließlich die Augen, um in Gedanken ganz langsam bis drei zu zählen, ehe er die Lider wieder hob. Der Anblick hatte sich nicht verändert.
Unter ihnen breitete sich ein weites, von wucherndem Grün erfülltes Tal aus. Es mußte mehrere Meilen breit und so lang sein, daß sein jenseitiges Ende in grüngrauem Dunst verschwand. Ein gewundener Fluß schlängelte sich silbern glitzernd zwischen den Bäumen hindurch, die auf dem Talboden wuchsen, und ein warmer, feuchter Windhauch schlug ihnen ins Gesicht, begleitet von den unterschiedlichsten Geräuschen, die zum Teil vertraut, zum Teil fremd waren. »Das ist nicht möglich«, murmelte Ben. »Ich... ich träume wohl! Ich muß am Seil abgerutscht und furchtbar auf den Kopf gefallen sein!«
»Das vermuten wir alle schon seit einer geraumen Weile«, sagte Juan. Aber seine Stimme zitterte, und der gepreßte Ton, in dem er sprach, nahm den Worten jeglichen scherzhaften Klang.
»Unglaublich!« flüsterte Trautman. »Das ist... ein Wunder. «
»Da unten!« rief Chris. »Das ist Singh. Singh!« Das letzte Wort hatte er geschrien, und die Gestalt, die gerade in diesem Moment zwischen den Bäumen unter ihnen aufgetaucht war, hatte es offensichtlich gehört, denn sie änderte abrupt ihre Richtung und rannte mit weiten Sprüngen auf sie zu. Es war tatsächlich Singh. Mike hatte ihn im ersten Moment kaum erkannt, denn der Inder hatte die dicke Pelzjacke ausgezogen, und auch der weiße Turban, den er unter der Kapuze getragen hatte und ohne den er normalerweise nie anzutreffen war, fehlte.