Wie auf ein unhörbares Kommando hin setzten sie sich alle gemeinsam in Bewegung und liefen dem Sikh entgegen. Singh riß im Laufen die Arme in die Höhe und winkte ihnen zu. Er rief irgend etwas, was Mike nicht verstand, und er wirkte wie ein Mensch, der vor irgend etwas davonrannte.
Und dann teilten sich die Bäume hinter dem Inder, und das Ungeheuer brach heraus.
Der Anblick war so bizarr, daß Mike noch ein paar Schritte weiterrannte, ehe er überhaupt begriff, daß das, was er dort sah, wirklich war, und ungeschickt stolpernd stehenblieb. Wenn dieser Wald und das fruchtbare Tal schon unmöglich gewesen waren, dann war das, was sie jetzt erblickten, geradezu absurd.
Das Geschöpf mußte an die drei Meter groß sein, und seine Länge schätzte Mike auf gut das drei- bis vierfache. Es lief auf zwei gewaltigen Hinterbeinen, hatte einen schlanken, trotzdem aber sehr muskulösen Körper und zwei geradezu lächerlich kleine Vorderläufe, die beinahe an menschliche Arme erinnerten, nur daß sie nicht in Händen, sondern in furchteinflößenden, dreifingrigen Klauen endeten, die es gierig nach seinem Opfer ausgestreckt hatte. Ein langer, sehr kräftiger Schwanz, den es im Laufen fast waagrecht ausgestreckt hatte, hielt das schreckliche Geschöpf im Gleichgewicht. Der Kopf war ein wahrer Alptraum. Er schien viel zu groß für den Rest des Körpers, und in dem weit aufgerissenen Maul, in dem Dutzende von gebogenen, sicherlich fingerlangen Zähnen blitzten, konnte ein sitzender Mensch bequem Platz finden. Das Geschöpf mußte mindestens drei oder vier Tonnen wiegen, denn Mike konnte trotz der noch großen Entfernung spüren, wie der Boden unter seinen Schritten erbebte, aber es bewegte sich trotzdem mit unglaublicher Geschwindigkeit. Seine ungeheure Größe ließ es weitaus plumper erscheinen, als es war.
Und trotzdem war es nicht seine Größe oder der Anblick des furchterregenden, aufgerissenen Maules, die Mike sekundenlang wie gelähmt dastehen und dem heranrasenden Koloß entgegenstarren ließ. Es war der Umstand, daß er wußte, was das für ein Geschöpf war. Er hatte ein Wesen wie dieses noch niemals lebend gesehen kein Mensch auf der Welt hatte das, aber natürlich kannte er Bilder, und er hatte mehr als einmal mit offenem Mund vor dem Skelett einer solchen Kreatur gestanden.
Das Wesen, das Singh verfolgte, war nichts anderes als ein leibhaftiger Dinosaurier!
Und erst als er dieses Wort ganz bewußt dachte, wurde ihm klar, in welcher Gefahr sie sich alle befanden. Mit einem gellenden Schrei wirbelte er herum und rannte den Hang wieder hinauf, so schnell er nur konnte, und im gleichen Moment erwachten auch die anderen endlich wieder aus ihrer Erstarrung und ergriffen die Flucht. Sie hatten sich noch nicht allzuweit vom Waldrand entfernt, und das Entsetzen über den Anblick des urzeitlichen Tieres gab ihnen zusätzliche Kräfte.
Trotzdem hätten sie es beinahe nicht geschafft. Der Saurier mußte wohl Mikes Schrei gehört haben, denn als Mike im Rennen einen Blick über die Schulter zurückwarf, da bemerkte er entsetzt, daß das Ungeheuer langsamer geworden war -und aus seinen kleinen, bösartig funkelnden Augen direkt zu ihnen heraufsah. Und dann änderte es jäh seinen Kurs und rannte genau auf ihn zu!
Mike schrie erneut auf, raffte all seine verbliebenen Kräfte zusammen und rannte so schnell wie niemals zuvor im Leben. Der Waldrand kam rasch näher, aber ein weiterer Blick zurück zeigte ihm, daß auch der Saurier aufholte, und das mit entsetzlicher Schnelligkeit. Als das Ungeheuer aus dem Wald aufgetaucht war, hatten zwischen ihm und Mike vielleicht hundert Meter gelegen. Jetzt betrug die Distanz allerhöchstens noch zehn, dann fünf - und dann hatte Mike den schützenden Nebel erreicht und war mit einem Satz zwischen den Bäumen. Das versteinerte Unterholz zersplitterte unter seinen Schritten, als er rücksichtslos hindurchbrach, aber er wurde nicht langsamer. Hinter ihm begann sich ein ungeheurer Schatten im Nebel abzuzeichnen, und er konnte deutlich spüren, wie der Boden unter den stampfenden Schritten des Giganten erzitterte. Hinter ihm erklang ein unvorstellbar lautes, unvorstellbar zorniges Brüllen, ein Laut, wie Mike ihn niemals zuvor im Leben gehört hatte und den er niemals wieder vergessen sollte, und er konnte hören, wie die versteinerten Bäume unter dem Ansturm des Kolosses zersplitterten wie Zahnstocher unter den Tritten eines Riesen. Ein Schatten tauchte vor Mike auf, lautlos und schnell wie ein Gespenst, schien mit hundert dürren Händen zugleich nach ihm zu greifen und zerrte an seiner Jacke. Mike wich dem Baum im letzten Moment aus, duckte sich unter einem tiefhängenden Ast hindurch, an dem er sich beinahe selbst aufgespießt hätte, und sah wieder zu dem Ungeheuer zurück.
Es war im Nebel nur als riesiger, verzerrter Schatten zu erkennen, aber es kam noch immer näher. Die Bäume behinderten sein Vorwärtskommen nicht im mindesten. Es rannte sie einfach nieder.
Das konnte Mike nicht. Er prallte wuchtig gegen einen Baum, stolperte einen Schritt zurück und fiel halb bewußtlos auf den Rücken. Für eine Sekunde wurde es dunkel rings um ihn herum. Er konnte nichts mehr sehen, und alles, was er hörte, war das Rauschen seines eigenen Blutes in den Ohren.
Als er die Augen wieder öffnete, ragte ein gigantischer, krallenbewehrter Fuß direkt vor ihm in die Höhe. Der Anblick war einfach zu entsetzlich, um Angst in ihm aufkommen zu lassen. Langsam drehte er den Kopf und ließ seinen Blick an dem Fuß und dem dazugehörigen, unvorstellbar großen Bein emporwandern, weiter den mit kleinen, grün und braun glänzenden Schuppen besetzten Leib empor und schließlich bis zu dem aufgerissenen Maul und den faustgroßen funkelnden Augen. Das Ungeheuer stand breitbeinig über ihm, wie ein Jäger, der sich über das Wild beugt und sich noch einen Moment an seinem Anblick erfreut, ehe er es endgültig erlegt, seine Krallen gierig ausgestreckt. Von den Zähnen, die wie kleine, gebogene Dolche in seinem Maul blitzten, troff Geifer. Der Saurier breitete die Vorderläufe aus, beugte sich vor und riß brüllend das Maul auf, und im gleichen Moment flog ein schwarzer Schatten aus dem Wald heraus, landet auf seiner Schnauze und begann fauchend und geifernd und mit allen Krallen gleichzeitig auf ihn einzuschlagen. Brüllend richtete sich der Koloß wieder auf und schüttelte den Kopf, und obwohl die Bewegung eher beiläufig wirkte, war sie doch von solcher Kraft, daß Astaroth einfach davongeschleudert wurde und meterweit durch die Luft flog, ehe ein Busch seinen Sturz beendete. Sofort war er wieder auf den Füßen, raste zurück und sprang auf Mikes Brust. Seine Fänge waren gebleckt. Ein tiefes, drohendes Knurren drang aus seiner Brust. Der Saurier senkte erneut den Schädel, riß ein zweites Mal das Maul auf - und zögerte.
Astaroth schlug mit den Klauen nach ihm. Seine Krallen vermochten die gepanzerte Haut des Giganten nicht einmal anzukratzen, und vermutlich spürte er die Berührung nicht einmal. Trotzdem packten die riesigen Fänge nicht zu. Der Saurier stand einfach da und starrte Mike und den Kater an. Das Maul war noch immer geöffnet, die furchtbaren Klauen zum Zupacken bereit ausgestreckt -aber er griff nicht an. Seine riesigen Augen fixierten das fauchende Fellbündel auf Mikes Brust, und dann konnte Mike regelrecht sehen, wie etwas Neues im Blick dieser gigantischen Reptilienaugen erschien, ein Ausdruck von... Verwirrung? Unsicherheit?