»Vielleicht wollten sie ihre Spuren verwischen«, ant
wortete Ben, aber Trautman schüttelte abermals den Kopf.
»Dann hätten sie erst gar kein Feuer gemacht oder die Stelle mit Blättern und Erde abgedeckt«, antwortete er. »Und denkt nur an die Schüsse, die wir gehört haben. Hier müßten Patronenhülsen herumliegen... irgend etwas. Ich glaube, das hier war jemand anders. « »Noch mehr Schiffbrüchige?« Ben wiegte zweifelnd den Kopf. »Für ein Land, von dessen Existenz kein Mensch auf der Welt weiß, herrscht hier aber ein ganz schöner Betrieb. «
Trautman blieb ernst. »Wahrscheinlich wird uns nichts anderes übrigbleiben«, sagte er. »Aber es gefällt mir nicht. Wir sollten auf jeden Fall vorsichtig sein. « »Wenn wir wenigstens eine Waffe hätten!« murmelte Ben. »Wenn wir wieder auf einen solchen Saurier treffen wie vorhin -«
»-würden uns Gewehre auch nicht viel nutzen«, unterbrach ihn Trautman. »Du glaubst doch nicht, daß du einen solchen Riesen einfach erschießen könntest?« Er beendete das Thema mit einer entschiedenen Handbewegung. »Wir müssen eben vorsichtig sein. « »Außerdem gibt es wahrscheinlich nicht sehr viele von ihnen«, fügte Chris hinzu. »Wieso?« fragte Ben.
»Weil sie dann längst alle kleineren Tiere in der Umgebung gefressen hätten«, antwortete Chris. »Ein solcher Räuber braucht wahrscheinlich ein Jagdrevier, das so groß ist wie London. Er muß jeden Tag sicher eine halbe Tonne Fleisch fressen. Wir alle zusammen wären wahrscheinlich nicht einmal genug, um ihn sattzubekommen. «
»Wie beruhigend«, murmelte Ben. »Es tut richtig gut, ein wanderndes Lexikon bei sich zu haben. « Chris verzichtete auf eine Antwort, und für eine Weile schwiegen sie alle.
»Also gut«, sagte Trautman schließlich, und man konnte ihm anhören, wie schwer es ihm fiel, diese Worte auszusprechen. »Stimmen wir ab. Wer ist dafür, zur Küste zurückzugehen?« Er hob selbst die rechte Hand, aber er war der einzige. Einige Sekunden lang wartete er vergebens darauf, daß sich einer der anderen seiner Haltung anschloß, dann ließ er den Arm wieder sinken. Auf den zweiten Teil der Abstimmung verzichtete er gleich ganz.
Der Fluß mußte wesentlich weiter entfernt sein, als es von oben aus den Anschein gehabt hatte, denn sie marschierten mehr als zwei Stunden durch den urzeitlichen Dschungel, ehe sie ihn erreichten. Mike und die anderen bekamen in diesen beiden Stunden Pflanzen und Geschöpfe zu Gesicht, die vor ihnen vielleicht noch kein anderer Mensch gesehen hatte, und die Welt, in die sie mit jedem Schritt tiefer eindrangen, war so voller Wunder, daß es nicht lange dauerte, bis sie allmählich selbst ihre Furcht zuvergessen begannen. Was Mike am allermeisten erstaunte, das war der schiere Überfluß an Leben, auf den sie trafen. Es gab buchstäblich keinen Fußbreit Boden, auf dem es nicht krabbelte, kroch und sich bewegte, kein Fleckchen in dem grünen Gewirr über ihren Köpfen, in dem nicht beständig irgend etwas raschelte, kroch, hüpfte oder flatterte. Alles schien in ununterbrochener Bewegung zu sein, und er konnte das Leben, das sie überall, sichtbar und unsichtbar, umgab, regelrecht fühlen, wie eine knisternde,unsichtbare Energie, die alles durchdrang. Und die zweitgrößte Überraschung war, daß dieses Leben zum allergrößten Teil vollkommen harmlos zu sein schien. Sie trafen nur zweimal auf Geschöpfe, um die sie vorsichtshalber einen Bogen schlugen -einmal auf eine Schlange, die vor ihnen über den Weg kroch und deren Länge Mike nicht einmal zu schätzen wagte, denn ihr Körper war so dick wie der eines Mannes, das zweite Mal auf ein riesiges Spinnennetz, dessen Bewohner sie nicht zu Gesicht bekamen - die Fäden waren so dick wie Mikes kleiner Finger.
Als sie endlich das Flußufer erreichten, waren sie vollkommen erschöpft. Sie hatten ihre warmen Jacken längst ausgezogen, aber die Hitze machte ihnen trotzdem zu schaffen, und das Gehen in dem fast undurchdringlichen Dschungel war über die Maßen anstrengend gewesen, und außerdem machten sich auch Hunger und Durst bemerkbar. Sie hatten ja nicht damit gerechnet, länger als wenige Stunden auf der Insel zu bleiben, und hatten somit keinerlei Vorräte mitgebracht. Zwar gab es im Wald reichlich Früchte und Beeren, aber sie hatten es nicht gewagt, irgend etwas davon anzurühren. Was verlockend aussah, mochte in Wirklichkeit giftig sein -immerhin bewegten sie sich durch eine Vegetation, die es auf der Erde gegeben hatte, mehr als sechzig Millionen Jahre, bevor der Mensch erschien. Zumindest ihren Durst konnten sie stillen. Mike war der erste, der sich am
Flußufer auf die Knie sinken ließ und die Hände in das eiskalte Wasser tauchte. Für eine Sekunde schoß ihm die Möglichkeit durch den Kopf, daß auch dieses Wasser ungenießbar sein könnte, aber er schenkte diesem Gedanken kaum Beachtung. Sie konnten ohne Essen Tage, vielleicht sogar Wochen durchhalten, aber trinken mußten sie. Aber anstatt bitter oder gar ungenießbar zu sein, schmeckte das kristallklare Wasser so köstlich und süß wie selten etwas, das Mike getrunken hatte. Es war sehr kalt, viel kälter, als er erwartet hatte, und schon die ersten Schlucke stillten seinen Durst nachhaltig. Trotzdem blieb er noch eine Weile am Ufer sitzen und blickte auf das rasch dahinfließende Wasser hinaus. Der Fluß war sehr breit -sicher eine halbe Meile -und seine Strömung war so stark, daß an eine Überquerung nicht zu denken war. Das jenseitige Ufer war nur als grüner Strich zu erkennen, und der Dschungel setzte sich auch dort drüben fort, so weit sein Blick reichte. Mike fragte sich, welche Geheimnisse dieser Dschungel noch bergen mochte. Es waren nicht nur ein paar Saurier und bisher für ausgestorben gehaltene Tier- und Pflanzenarten. Er spürte einfach, daß da noch mehr war. Die wirklichen Geheimnisse dieser versunkenen Welt lagen noch unentdeckt vor ihnen, und sie mußten gewaltiger sein, als sie jetzt auch nur ahnten. Er registrierte eine Bewegung neben sich und erkannte Serena, die sich gerade auf die Knie sinken ließ und eine Handvoll Wasser schöpfte, um zu trinken. Sie sah so erschöpft aus wie sie alle und so
müde und abgekämpft, wie auch Mike sich fühlte, und trotzdem kam sie ihm in diesem Moment hübscher und verlockender vor denn je. Er sah sie eine Weile wortlos an, bis Serena seine Blicke fühlte und sich mit einem Stirnrunzeln zu ihm herumdrehte.
»Was ist?« fragte sie in scharfem Ton. »Warum starrst du mich so an? Du denkst sicher dasselbe wie die anderen, nicht? Du glaubst, daß es meine Schuld ist. « »Deine Schuld?« wiederholte Mike verständnislos. »Aber was denn?«
»Daß wir hier sind«, antwortete Serena. Sie begann plötzlich zu zittern. Ihre Augen schimmerten feucht, aber noch hielt sie die Tränen zurück. Und Mike streckte automatisch die Hände aus, schloß Serena in die Arme und drückte sie schützend an sich, und ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit ließ sich Serena diese Vertrautheit nicht nur gefallen, sondern drückte sich sogar noch fester an seine Schulter. Es war das erste Mal, daß Mike Serena so berührte, und er war nicht nur überrascht über seinen eigenen Mut, er begriff auch plötzlich, wie einsam die Atlanterin trotz allem war. Serena lebte mit ihnen an Bord der NAUTILUS, sie aß, redete und lachte wie sie, übernahm ganz selbstverständlich einen Teil der Aufgaben aber sie war nicht wie sie.