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Was er Chris noch vor einer Sekunde vorgeworfen hatte, das tat er nun selbst: Ohne zu überlegen, rannte er los. Das Jagdfieber hatte ihn gepackt, und es ließ ihn sowohl die Gefahr als auch seine eigenen Ermahnungen auf der Stelle vergessen. Mit weit ausgreifenden Schritten erreichte er das Gebüsch, in dem der Schatten verschwunden war, umrundete es und sah einen Umriß dicht vor sich hinter einem Baum verschwinden. Er konnte nicht genau erkennen, was es war, aber das Wesen war viel kleiner als er, und es bewegte sich sehr flink. Er beschleunigte seine Schritte noch mehr. Hinter ihm wurden Trautmans und dann auch Bens und Juans Stimmen laut, die nun seinen Namen schrien. Mike erreichte den Baum, hinter dem das flüchtende Geschöpf verschwunden war, sah gerade noch einen Schatten in einem Gebüsch zurLinken verschwinden und änderte abrupt seine Richtung. Vor ihm bewegten sich die Äste, dann sah er einen Schemen nach rechts davonhuschen, warf sich mitten in der Bewegung herum und erreichte das Geschöpf mit einem gewaltigen Satz. Mit weit vorgestreckten Armen packte er es und riß es von den Füßen.

Sofort traf ihn ein Tritt vor das Schienbein, Krallen zerrissen sein Gesicht. Er konnte kaum etwas sehen. Mike wollte die Hände hochreißen, um sein Gesicht zu schützen, da traf ihn ein heftigerer Hieb in den Leib. Instinktiv zog er den Kopf zwischen die Schultern und versuchte die wirbelnden Arme festzuhalten, aber sein Gegner schien über mehr als nur zwei Gliedmaßen zu verfügen. Zum dritten Mal traf ihn ein Schlag in den Magen. Mike krümmte sich, warf sich aber trotzdem nach vorne und schaffte es endlich, den sich wie toll wehrenden Körper unter sich zu begraben. Wie von weit her konnte er hören, wie die anderen herangelaufen kamen und bei ihm stehenblieben. Sonderbarerweise machte keiner von ihnen auch nur den Versuch, ihm zu helfen. »Verdammt, warum hilft mir denn keiner?!« brüllte Mike. »Wollt ihr zusehen, wie es mich umbringt?« Jemand lachte.

Mike sah verdutzt auf, blickte erst in Trautmans, dann in Singhs Gesicht, und was er darin erblickte, das war das gleiche: Ein Ausdruck, der zwischen Verblüffung, Staunen und kaum mehr verhohlener Schadenfreude schwankte.

»Bravo«, sagte Ben grinsend und begann spöttisch zu applaudieren. »Das war eine echte Leistung, Mike. « »Das kann man wohl sagen«, fügte Trautman hinzu. »Da hast du ja ein wirklich gefährliches Ungeheuer gefangen. «

Es verging immer noch eine Sekunde, bis Mike endlich auf die Idee kam, den Blick von Trautmans Gesicht zu lösen und das anzusehen, was er gepackt hatte und mit Müh und Not am Boden hielt.

Und dann mindestens zehn Sekunden, in denen er nichts anderes tat, als reglos dazusitzen und sich unbeschreiblich dämlich vorzukommen. Das gefährliche Ungeheuer, das er erlegt hatte, war ein Mädchen von allerhöchstens sieben oder acht Jahren. Verblüfft ließ Mike die Handgelenke des Mädchens los -mit dem Ergebnis, daß er sofort eine schallende Ohrfeige bekam, die ihm die Tränen in die Augen steigen ließ, und kaum eine Sekunde später einen Stoß vor die Brust, der ihn rücklings zu Boden schleuderte. Dann sprang das Mädchen auf, sah sich wild um und begann am ganzen Leib zu zittern, als es begriff, daß es umzingelt war -Trautman, Singh, Serena und die drei anderen Jungen bildeten einen Kreis, aus dem es kein Entkommen gab.

»Hab keine Angst, Kleines«, sagte Trautman. »Wir tun dir nichts. « Er lächelte beruhigend, streckte die Hand aus und trat einen Schritt auf das Mädchen zu. Die Kleine wich etwas zurück und hob die zu Fäusten geballten Hände. In ihrem Blick flackerte nackte Panik. Trautman blieb wieder stehen.

Als nächstes versuchte es Singh, aber mit dem gleichen Ergebnis. Erst als Serena sich mit sanfter Stimme an das Mädchen wandte, nahm es zögernd die Hände herunter. Aber es zitterte noch immer am ganzen Leib, und es dauerte lange, bis es soweit Vertrauen zu Serena gefaßt hatte, daß die Atlanterin es wagte, sich ihm zu nähern und schließlich einen Arm um seine Schulter zu legen. Dann aber brach all die aufgestaute Furcht und Angst schlagartig aus ihm heraus. Mit einer so heftigen Bewegung, daß es Serena beinahe von den Füßen gerissen hätte, warf es sich an ihre Brust und begann krampfhaft zu schluchzen. Serena schloß beide Arme um seine Schultern und begann ihm leise, beruhigende Worte zuzuflüstern.

»Wirklich, eine reife Leistung«, sagte Ben, der noch immer genauso unverschämt breit grinste wie bisher. »Wir sollten uns einen neuen Namen für dich ausdenken. Wie wäre es mit Drachentöter?« »Wenn du so weitermachst, brauchst du einen neuen Namen«, grollte Mike. »Hinkefuß oder Zahnlücke. « Ben lachte schallend. Mike schenkte ihm noch einen abschließenden, bösen Blick, dann richtete er sich mühsam auf und tastete mit spitzen Fingern über sein Gesicht. Seine Haut brannte wie Feuer, und er fühlte mindestens zwei Dutzend Kratzer, von denen einige bluteten.

Langsam trat er auf das Mädchen zu und betrachtete es genauer. Es war noch jünger, als er im ersten Moment geglaubt hatte - vielleicht sechs Jahre alt, und sie befand sich in einem erbarmungswürdigen Zustand. Ihre Kleider hingen in Fetzen an ihr herunter. Ihre Haut starrte vor Schmutz, und ihr Haar war strähnig verklebt und so schmutzig, daß man seine ursprüngliche Farbe nicht einmal mehr erraten konnte. Ihr Gesicht und ihre Hände waren mit zahllosen, verschorften Kratzern und Schnitten übersät, und sie war so mager und ausgezehrt, als hätte sie seit Wochen nichts mehr zu essen bekommen. Es mußte wohl die schiere Todesangst gewesen sein, die ihr die Kraft gegeben hatte, sich so heftig gegen ihn zu wehren. »Wer bist du?« fragte er. »Wie ist dein Name?« Das Mädchen sah kurz unter Serenas Armen hindurch zu ihm hinüber und drückte sich dann noch enger an ihre Brust. Mike wollte einen weiteren Schritt auf sie zugehen, aber Serena hob abwehrend die Hand. »Laß sie in Ruhe«, sagte sie. »Du siehst doch, daß sie Angst vor dir hat. Warum

mußtest du auch so brutal zu ihr sein?«

Mike blieb angesichts dieser Worte beinahe die Luft weg. Wenn hier jemand brutal zu jemanden gewesen war, dann bestimmt nicht er zu dem Mädchen, sondern wohl eher umgekehrt. Er setzte zu einer dementsprechenden Entgegnung an, aber Trautman kam ihm zuvor und brachte ihn mit einer besänftigenden Geste zum Schweigen.

»Vielleicht ist es wirklich das beste, wenn wir sie erst einmal ganz in Ruhe lassen«, sagte er. »Serena wird sich schon um sie kümmern. Schauen wir uns inzwischen nach einem geeigneten Platz für die Nacht um. « Mike fügte sich, wenn auch nicht ohne vorher noch einmal demonstrativ mit spitzen Fingern über die Kratzer und Schrammen zu fahren, die sein Gesicht verunzierten. Das Ergebnis fiel allerdings nicht unbedingt so aus, wie er gehofft hatte. Anstelle von Mitleid erntete er nur eine Reihe spöttischer Blicke, so daß er schließlich aufgab und Trautman folgte.

Während der folgenden halben Stunde suchten sie die nähere Umgebung gründlich ab, aber ganz wie Mike insgeheim schon befürchtet hatte, war das einzige, was einem sicheren Platz auch nur nahe kam, eine gewaltige Astgabel acht oder neun Meter über dem Erdboden. Gottlob war der Baum leicht zu ersteigen, was Mike aber nicht sonderlich beruhigte -wenn sie leicht dort hinaufkamen, dann galt das auch für alle anderen Bewohner dieses Waldes. Aber es war das Beste, was sie fanden. Schließlich kehrten sie zu Serena, Astaroth und dem fremden Mädchen zurück. Die Kleine hatte mittlerweile aufgehört zu weinen, kauerte aber noch immer angstvoll an Serena geschmiegt auf dem Boden und sah ihnen -und vor allem Mike -mißtrauisch entgegen. Astaroth hatte sich auf ihrem Schoß zusammengerollt und schnurrte zufrieden, während das Mädchen ihn mit einer Hand zwischen den Ohren kraulte. »Nun?« fragte Trautman. Er lächelte dem Mädchen aufmunternd zu, aber er fing auch Serenas warnenden Blick auf und wagte es nicht, sich ihr weiter als zwei Schritte zu nähern. »Wie geht es dir? Hast du dich beruhigt?«