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Mike sah wieder zur Eisinsel zurück. Ihr Anblick -und vor allem der des Wracks, das zerschellt an ihrem Strand lag - ließ ihn noch immer nicht los, aber es wurde tatsächlich Zeit, daß er ins Schiff zurückkehrte. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. In einigen Minuten würde es dunkel werden, so daß er hier oben rein gar nichts mehr sehen konnte. Und die Kälte begann unerträglich zu werden. So folgte er Singh zum Turm und der offenstehenden Einstiegsluke und blieb abrupt mitten in der Bewegung stehen. »Was ist los?« fragte Singh alarmiert. Seine rechte Hand hatte sich zur Hüfte gesenkt, dorthin wo er sonst seinen Säbel trug, eine Waffe, die er normalerweise nur an Bord des Schiffes ablegte -es sei denn, er mußte sich wie jetzt in einen Pelzmantel hüllen, der so dick war, daß er sich darin kaum bewegen konnte. »Ich weiß nicht«, murmelte Mike. Sein Blick suchte den Himmel über der Insel ab. Für einen winzigen Moment hatte er geglaubt, dort eine Bewegung zu erkennen. Aber jetzt war sie fort. Alles, was er sah, waren Nebel und weiße Schneeschleier, die der Wind von den Graten der eisigen Klippen riß.

»Ich dachte, ich hätte... etwas gesehen. Aber ich muß mich wohl getäuscht haben. « Singh antwortete nicht, aber er suchte einige Sekunden sehr aufmerksam den Himmel und danach den Strand ab. Erst als Mike in die Luke hinabzuklettern begann, folgte er ihm. Eine Welle wohltuender Wärme schlug Mike entgegen, als er in den Turm der NAUTILUS hinabstieg. Die beiden fast mannsgroßen Bullaugen waren mit Eisblumen bedeckt, so daß es hier drinnen merklich dunkler als draußen war, und nach der Eiseskälte draußen kam ihm die Luft hier drinnen, die immer ein wenig nach Metall und Öl roch, beinahe stickig vor. Trotzdem atmete er ein paarmal sehr tief ein und spürte, wie sich die Wärme allmählich in seinem Körper auszubreiten begann. Singh schloß die Luke sorgfältig über sich und verriegelte sie.

Mikes Finger waren noch immer so steif vor Kälte, daß Singh ihm dabei helfen mußte, die schwere Pelzjacke auszuziehen, und als das Gefühl schließlich in sie zurückkehrte, geschah es auf eine äußerst schmerzhafte Weise. Zuerst verspürte er ein Kribbeln, dann ein Pochen, und endlich taten sie so weh, daß ihm fast die Tränen in die Augen schössen. Er zitterte am ganzen Leib, als er fünf Minuten später den großen Salon der NAUTILUS betrat.

Trautman war nicht der einzige, der auf ihn wartete. Mit Ausnahme Juans, der heute Küchendienst hatte und seit dem frühen Vormittag bereits sein möglichstes tat, um die Kombüse zu verwüsten, saßen alle an dem großen Tisch neben dem Aussichtsfenster und redeten. Mike hatte ihre aufgeregten Stimmen bereits draußen auf dem Korridor gehört. Bei seinem Eintreten unterbrachen sie ihr Gespräch jedoch, und für eine Sekunde verspürte Mike das ganz und gar nicht angenehme Gefühl, von jedermann angestarrt zu werden. Selbst Astaroth, der unter dem Tisch hockte und vor sich hin döste, hob für einen Moment den Kopf und blinzelte ihn aus seinem einen Auge träge an.

Hinter ihm bewegte sich ein zweiter, etwas kleinerer Schatten: Isis, die schwarzweiße Katze, die vor einer Weile gegen Astaroths ausdrücklichen Willen an Bord gekommen war und dem einäugigen Kater seither nicht von der Seite wich. Wenn man genau hinsah, konnte man hinter den beiden eine Anzahl noch kleinerer, pelziger Umrisse erkennen. Isis hatte vor einem Monat vier Junge bekommen, was Astaroths Beteuerungen, daß er sie nicht ausstehen konnte und sie ihm unglaublich auf die Nerven gehe, ein wenig an Glaubwürdigkeit nahm.

»Was ist los? Ihr seht mich alle an, als wäre irgendetwas passiert«, sagte Mike, während er sich dem Tisch näherte. Sein Blick blieb an einer dampfenden Kanne hängen, aus der es verlockend nach frischgebrühtem Tee roch. Trautman griff kommentarlos nach ihr, schenkte eine Tasse ein und drückte sie Mike in die Hand, während sich dieser setzte. Mike nahm sie dankbar entgegen, nippte vorsichtig an dem heißen Getränk und schloß die Hände um die Tasse, um die Wärme zu genießen, die das Porzellan ausstrahlte. »Ich möchte nur wissen, was du dort draußen suchst«, sagte Ben. »Die Insel ist leer. Hier lebt garantiert niemand mehr. «

»Und wer hat den Funkspruch geschickt, den wir aufgefangen haben?«

Ben machte eine wegwerfende Geste. »Das ist mittlerweile eine Woche her«, sagte er. »Seitdem haben wir nichts mehr gehört. Wahrscheinlich sind sie längst erfroren. Und selbst wenn nicht - wir sind ja nicht einmal ganz sicher, ob die Koordinaten stimmen. « Zumindest in diesem Punkt mußte ihm Mike beipflichten, auch wenn er nicht in der Stimmung war, dies laut zu tun. Der Funkspruch, den Singh aufgefangen hatte, war verstümmelt gewesen. Sie hatten nur die ungefähren Längen-und Breitengrade schätzen können und waren mehr oder weniger auf gut Glück losgefahren, und diese Insel im ewigen Eis hatten sie erst nach beinahe einer Woche gefunden. Trotzdem widersprach er: »Das Boot auf dem Strand -«

»-kann seit zwanzig Jahren dort liegen«, unterbrach ihn Ben. Er schüttelte heftig den Kopf. »Wenn ihr mich fragt, ist es vollkommen sinnlos, länger hierzubleiben. Selbst wenn es die richtige Insel ist, sind sie garantiert schon tot: Hier ist es so kalt, daß niemand eine Woche unter freiem Himmel durchhält. « »Vielleicht haben sie sich weiter ins Innere zurückgezogen«, sagte Mike störrisch. »Die Insel muß sehr groß sein. «

»Blödsinn«, antwortete Ben überzeugt. »Wenn du Schiffbruch erleidest und einen Notruf absetzt, würdest du dann etwa nicht das Meer beobachten? Sie hätten uns längst gesehen und sich irgendwie bemerkbar gemacht. «

Leider hat er auch damit recht, dachte Mike. Es war schlichtweg unvorstellbar, daß irgend jemand um Hilfe rief und sich dann versteckte, um ja nicht gefunden zu werden.

Es sei denn, er hatte einen ganz bestimmten Grund dafür...

»Ich... bin gar nicht so sicher, daß diese Insel wirklich unbewohnt ist«, sagte er zögernd. »Wie meinst du das?« fragte Serena. Trautman sagte nichts, blickte ihn aber sehr aufmerksam an. »Vorhin, als Singh mich geholt hat«, fuhr Mike fort, »da habe ich für einen Moment geglaubt, etwas zu sehen. Ich war nicht ganz sicher, aber jetzt... « »... wäre es ganz praktisch, einen Grund zu haben, doch noch hierzubleiben?« schlug Ben vor. Mike starrte ihn böse an, aber Trautman machte eine entsprechende Geste in seine Richtung und wandte sich an Ben. »Bitte rede nicht so einen Unsinn. Mike würde uns bestimmt nicht belügen. Was genau hast du gesehen?«

Der letzte Satz galt wieder Mike, aber es verging eine Weile, ehe dieser antwortete. Er versuchte, sich an den kurzen Moment zu erinnern. Es war ja nicht einmal eine Sekunde gewesen. »Irgend etwas war da. Ein Schatten, eine Bewegung... « Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe es nicht wirklich gesehen, wißt ihr? Aber es war komisch. Es war... nicht oben auf dem Eis. « »Nicht auf dem Eis?« wiederholte Trautman verwirrt. »Was meinst du damit?«

»Höher«, antwortete Mike. Er glaubte sich jetzt deutlicher zu erinnern. Es war, als beschwörten die Worte die Bilder wieder herauf, und das deutlicher, als er sie im ersten Moment wahrgenommen hatte. »In der Luft. Ja, es war in der Luft. Irgend etwas ist dort oben entlanggeflogen. « Trautman sah ihn zweifelnd an, während Ben breit zu grinsen begann. »Ich nehme an, es war ein Eisvogel, wie?« fragte er. »Nein«, antwortete Mike. »Es war eine Fledermaus. « Bens Unterkiefer klappte herunter, und auch Trautman sah plötzlich drein, als könnte er nur noch mit Mühe ein Lachen unterdrücken. Mike hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Die Worte waren ihm herausgerutscht, ohne daß er es hatte verhindern können. Aber so unglaublich seine Behauptung selbst in seinen eigenen Ohren klingen mochte, plötzlich wußte er, daß es ganz genau das war, was er in der Luft über der Eisklippe gesehen hatte: den schwarzen Umriß einer Fledermaus.