»Triceratops«, antwortete Chris. »Das sind Triceratops. Keine Angst -es sind friedliche Pflanzenfresser. Sie hätten uns nichts getan. «
»Ganz bestimmt nicht«, knurrte Ben. »Außer daß sie uns platt wie die Flundern getrampelt hätten. « »Aber es waren so viele«, murmelte Mike fassungslos. »Das müssen Hunderte gewesen sein. « »Wahrscheinlich eher Zehntausende«, korrigierte ihn Chris mit gewichtigem Gesichtsausdruck. »Sie sind in riesigen Herden gezogen, wie früher die Büffel in Nordamerika. Und sie -«
»Ruhe!« zischte Trautman. »Da ist etwas!« Er beugte sich vor und starrte in die Dunkelheit hinunter. Mike tat es ihm gleich.
Unter ihnen trotteten noch immer einige Nachzügler der großen Herde dahin, aber den gewaltigen Sauriern folgten andere, kleinere Schatten, sie sich viel schneller bewegten und in der Dunkelheit fast wie Menschen aussahen. Was diesen Eindruck noch unterstrich, waren die kleinen, aber sehr starken Lampen, die sie in den Händen hielten, um den Weg vor sich abzuleuchten. Was Mike im Licht dieser Lampen allerdings sah, das machte den Eindruck, ein menschliches Wesen zu erblicken, so gründlich zunichte, wie es überhaupt nur ging.
Die Geschöpfe waren eindeutig größer als Menschen, sicherlich zwei Meter, wenn nicht mehr, und dabei von so schlankem Wuchs, daß sie noch größer wirkten. Sie hatten zwei Arme, zwei Beine und einenKopf, aber damit hörte die Ähnlichkeit mit einem Menschen schon auf. Ihre Arme waren zu lang und endeten in nur dreifingrigen sehr schmalen Händen, die zum Ausgleich allerdings über zwei gegeneinandergestellte Daumen verfügten, was ihnen ein enormes Geschick verleihen mußte. Ihre Köpfe waren rund und völlig haarlos und wie der restliche Körper von winzigen, blau und grün schimmernden Hornpailletten bedeckt, und sie wurden ganz von zwei riesigen gelben Augen beherrscht, die unter mächtigen Knochenwülsten herausblickten. Sie hatten breite, dünnlippige Münder und eine kaum sichtbare Nase, und sie verständigten sich mit hohen schnatternden Tönen und etwas tieferen Zischlauten, die selbst durch das Dröhnen der davonziehenden Herde noch deutlich zu verstehen waren. Einige von ihnen hielten lange metallene Stöcke in den Händen, deren Bedeutung Mike im ersten Augenblick nicht klar war. Doch dann sah er, wie eines der riesigen Tiere von seinem Weg abwich, um einige Blätter von einem niedergetrampelten Busch abzureißen. Sofort richtete einer der Geschuppten seine Lampe auf den Triceratops und stieß einen zischenden Laut aus, und eines der anderen Wesen eilte hin und hob seinen Stab. Ein helles, elektrisches Knistern erklang, und ein blauer Lichtblitz löste sich vom Ende des Stabes und traf den gepanzerten Giganten. Der Triceratops grunzte erschrocken, drehte sich schwerfällig wieder herum und setzte seinen Weg auf dem alten Kurs fort.
»Hirten!« murmelte Ben fassungslos. »Das... das sind Viehhirten! Diese Biester sind ihre Herde!« Er hatte sehr leise gesprochen -und trotzdem zu laut, denn eines der Geschöpfe blieb plötzlich stehen und legte lauschend den Kopf auf die Seite. Mike und die anderen beobachteten mit angehaltenem Atem, wie es sich langsam einmal im Kreis drehte und dabei seine Lampe schwenkte. Der gelbe, sonderbar asymmetrisch geformte Lichtkreis tastete über zertrampelte Büsche und Bäume, blieb hier auf einem Schatten, da an einem Umriß hängen und wanderte nur langsam weiter. Mikes Herz begann vor Aufregung schneller zu schlagen. Wenn das Wesen auf die Idee kam, seine Lampe zu heben und in die Baumwipfel hinaufzuleuchten, dann mußte es sie entdecken. Die Astgabel, in der sie Zuflucht gesucht hatten, war vollkommen kahl und bot nicht die mindeste Deckung.
Aber sie hatten noch einmal Glück. Das Geschöpf beendete seine Drehung, und da es nichts Auffälliges gesehen hatte, kam es wohl zu dem Schluß, sich getäuscht zu haben, denn es senkte seine Lampe wieder und schritt schneller aus, um zu seinen Kameraden und der Herde aufzuschließen. Trotzdem wagte es lange keiner von ihnen, sich zu rühren oder etwas zu sagen. Erst als das Dröhnen der davonziehenden Herde ebenso wie die blitzenden Lichter längst im Wald hinter ihnen verschwunden war, richtete sich Mike wieder hoch und atmete erleichtert auf.
»Das war knapp«, murmelte er. »Das nächste Mal behältst du deine wissenschaftlichen Erkenntnisse für dich, bis jemand danach fragt, Ben, okay? Diese Wesen scheinen über verdammt gute Ohren zu verfügen. « Er rechnete mit einer patzigen Antwort, aber sie kam nicht, und als er sich zu den anderen herumdrehte, sah er auch, warum.
Annie hatte sich in Trautmans Arme zu einem Ball zusammengerollt. Sie zitterte am ganzen Leib und wimmerte leise. Im ersten Moment hielt Mike es wirklich nur für ein Weinen, aber dann verstand er die Worte, die Annie immer und immer wieder schluchzte.
»Die Drachen!« sagte das Mädchen. »Die Drachen kommen. «
Mike hatte geglaubt, daß an Schlaf in dieser Nacht nicht mehr zu denken wäre, aber er täuschte sich. Nachdem es ihnen gelungen war, Annie halbwegs zu beruhigen, diskutierten sie noch eine Weile über das Erlebte, aber schließlich verlangten ihre Körper nachhaltig ihr Recht, und sie schliefen nacheinander ein. Mike erwachte als letzter, auch jetzt wieder mit dem Gefühl, die Augen gerade erst zugemacht zu haben, aber zumindest nicht mehr so erschöpft wie am vergangenen Abend. Es war bereits wieder warm, und es würde sicher nicht mehr lange dauern, bis es heiß wurde. Die Sonne stach ihm schon jetzt unangenehm grell in die Augen.
Noch immer ein wenig benommen, richtete er sich auf, rieb sich gähnend über das Gesicht und sah sich um. Trautman und Singh hockten in einiger Entfernung beieinander und redeten. Mike zweifelte daran, daß sie in dieser Nacht überhaupt ein Auge zugetan hatten. Ben hockte neben ihm auf dem Ast und betrachtete seine Umgebung. »Wo sind Serena und die anderen?« fragte Mike.
»Astaroth ist schon seit längerer Zeit im Wald verschwunden«, erwiderte Ben. »Wahrscheinlich geht er ein paar Saurier erschrecken. Die anderen sind irgendwo. Schätze, sie suchen etwas Eßbares. « Der Gedanke an etwas zu essen weckte Mikes Hunger. Sein Magen begann hörbar zu knurren. Er schenkte Ben noch ein weiteres, schadenfrohes Grinsen, stand auf und begann vorsichtig den Baum hinunterzusteigen.
Jetzt im hellen Licht des neuen Tages, konnte er die Verheerung, die die vorüberziehende Triceratopsherde angerichtet hatte, erst richtig überblicken. Der Wald sah aus, als wären zwei Dutzend Planierraupen nebeneinander hindurchgefahren, und das mindestens fünfmal in jede Richtung. Das dichte Unterholz und Gestrüpp, das am Tag zuvor solche Mühe bereitet hatte, war einfach verschwunden. Selbst kleinere Bäume waren niedergewalzt und zu Sägespänen zertrampelt worden. Nur die wirklich großen, massiven Stämme waren stehengeblieben, aber selbst sie zeigten deutliche Spuren der Giganten, die an ihnen vorbeigezogen waren: Der Baum, auf dem sie die Nacht verbracht hatten, hatte bis zu einer Höhe von gut vier Metern keine Rinde mehr. Mike beglückwünschte Trautman im nachhinein dazu, auf diesem luftigen Nachtlager bestanden zu haben. Hätten sie auf ebener Erde gelagert, dann wären sie jetzt wahrscheinlich nicht mehr am Leben. Die Herde hatte eine Bresche in den Wald geschlagen, auf der nichts mehr existierte und die wahrscheinlich erst in einem Jahrzehnt wieder bewachsen sein würde. Diese Erkenntnis führte zu einer weiteren, die allerdings einige Augenblicke benötigte, um ganz in sein Bewußtsein zu dringen -wenn diese Insel nämlich groß genug war, um eine solch gigantische Herde dieser Riesentiere zu beheimaten, dann konnte es sich nur um eine wirklich gewaltige Landmasse handeln -nicht nur um eine große Insel, wie sie am Anfang noch vermutet hatten. Und das wiederum bedeutete, daß ihre Chancen, möglichst schnell wieder von hier wegzukommen, noch viel schlechter standen, als Mike bisher vermutet hatte.