Der Gedanke war nicht unbedingt dazu angetan, ihn aufzumuntern. Also schob er ihn beiseite und schritt statt dessen schneller aus, um Serena zu finden. Er mußte sich gute zwei-oder auch dreihundert Meter von ihrem Baum entfernen, ehe er wieder einen Bereich des Waldes betrat, der nicht zerstört worden war, und schließlich Serena fand.
Die Atlanterin kam ihm entgegen. Sie wirkte fröhlich wie schon lange nicht mehr. Ihr Gesicht war gerötet, und ihr Haar naß und dunkeclass="underline" Mike nahm an, daß sie am Fluß gewesen war, um sich zu waschen und vielleicht etwas zu trinken. Außerdem hielt sie eine sonderbar aussehende, dunkelrote Frucht in der Hand, von der sie immer wieder große Stücke abbiß und sie genüßlich kaute.
Der Anblick weckte Mikes Hunger schlagartig wieder. Sein Magen begann zu knurren, aber zugleich durchfuhr ihn auch ein riesiger Schrecken. »Serena!« rief er. »Bist du verrückt?« »Nein«, antwortete Serena fröhlich. »Aber gleich satt. « Sie hielt ihm die Frucht hin. »Willst du auch ein Stück. Es schmeckt köstlich. «
Der Anblick der verlockenden Frucht ließ Mike das Wasser im Munde zusammenlaufen. Ganz impulsiv hob er die Hand, um danach zu greifen, schüttelte aber dann den Kopf und sagte: »Oder auch gleich tot. Was, wenn sie giftig ist?«
»Dazu schmeckt sie viel zu gut«, erwiderte Serena fröhlich und biß erneut herzhaft in die Frucht. »Außerdem sterbe ich lieber heute an einer giftigen Frucht, als in ein paar Tagen jämmerlich zu verhungern. « Sie lächtelte, biß zum dritten Mal in die Frucht und begann plötzlich herzhaft und mit vollem Mund zu lachen. »Nun nimm schon, Dummkopf«, sagte sie. »Ich kenne diese Früchte. Im Palast meiner Eltern wurden sie zu ganz besonderen Anlässen gereicht. Ich weiß nicht einmal, wie man sie nannte, aber sie waren sehr kostbar. Ich denke, mittlerweile weiß ich auch, warum. «
Jetzt gab es natürlich kein Halten mehr für Mike. Er riß Serena die Frucht regelrecht aus den Händen und biß so hastig hinein, daß er sich beinahe verschluckt hätte. Serena hatte keineswegs übertrieben -die Frucht schmeckte einfach köstlich, auch wenn ihr Geschmack mit nichts zu vergleichen war, was er je gegessen hatte. Mike vertilgte sie bis auf den letzten Krümel. Schließlich hielt er nur noch den Stiel und einen schmalen, mit dunklen Körnern durchsetzten Kern in den Händen. Sein Hunger war keineswegs gestillt, aber sein Magen hatte wenigstens aufgehört zu knurren. »Das war gut«, sagte er und atmete tief durch. »Ich muß sagen, deine Eltern hatten einen guten Geschmack. « Dann blickte er betroffen auf den abgenagten Kern in seiner Hand herab. »Oh«, fuhr er fort. »Jetzt habe ich dir alles wegge -«
»Das macht nichts«, unterbrach ihn Serena und machte eine Kopfbewegung in die Richtung, aus der sie gekommen war. »Dort hinten wachsen Hunderte davon. Was hältst du davon, wenn wir den anderen ein Frühstück mitbringen?«
Mike stimmte begeistert zu. Sie gingen ungefähr hundert Meter zurück in den Wald, bis Serena stehenblieb und nach oben deutete. Mike folgte mit dem Blick ihrem ausgestreckten Arm. Die Früchte waren da, ganz wie Serena gesagt hatte, und es waren wirklich Hunderte. Dummerweise wuchsen sienicht an einem Busch, sondern an den Ästen eines Baumes. Die untersten befanden sich etwa fünfzehn Meter über dem Erdboden.
»Oh«, sagte Mike.
Serena lachte. »Wenn du Angst hast, dann warte hier unten«, sagte sie. »Ich klettere hoch und werfe sie dir zu. « Sie machte auch unverzüglich Anstalten, ihre Worte in die Tat umzusetzen, aber natürlich ließ Mike das nicht zu. Mit einer hastigen Bewegung hielt er Serena zurück und begann den Baum hinaufzuklettern. Ungefähr auf halbem Wege begann er seine Ritterlichkeit bereits zu bedauern, und er war noch längst nicht oben, da zitterten seine Hände und Knie so heftig, daß er alle Mühe hatte, überhaupt noch weiterzuklettern. Aber natürlich ließ er sich nichts davon anmerken, sondern klettertetapfer weiter und erreichte schließlich, wenn auch schweißgebadet, die Äste, an denen die Früchte wuchsen. Ihn schwindelte ein wenig, als er nach unten blickte.
»Wirf sie einfach herunter!« rief Serena. »Zwei für jeden müßten genügen. Sie sind sehr nahrhaft. « Mike nickte nervös, kroch auf Händen und Knien auf einen kaum armdicken Ast hinaus und riß unsicher ein paar Früchte ab. Er fragte sich immer verblüffter, wie um alles in der Welt Serena das Kunststück fertiggebracht hatte, hier heraufzuklettern und die Frucht zu pflücken. Der Baum war nicht so hoch wie der, auf dem sie übernachtet hatten, aber die glatte Rinde bot seinen Händen und Füßen kaum Halt. Er war in Schweiß gebadet und zitterte am ganzen Leib, als er endlich wieder bei Serena angekommen war und festen Boden unter den Füßen spürte.
Serena hatte die Früchte auf einen Haufen gelegt und suchte nun etwas, um sie zu transportieren. Als sie mit einem großen, grün und gelb gestreiften Blatt in den Händen zurückkam, raschelte es hinter ihnen in den Büschen und Astaroth tauchte auf. Er blieb erstaunt stehen, als er sah, was sie taten, und blickte dann erst Serena, dann Mike an. Ihr habt noch mehr geholt? fragte er. »Noch... mehr?« wiederholte Mike. Ein böser Verdacht begann in ihm aufzusteigen. »Wie meinst du das?« fragte er. Die Frage galt dem Kater, aber er sah Serena dabei an. Das Mädchen lächelte noch immer, aber es wich seinem Blick jetzt aus.
He -sag bloß, du bist auf den Baum geklettert und hast sie gepflückt! sagte Astaroth. Ich wußte gar nicht, daß du so sportlich bist. »Natürlich bin ich auf den Baum geklettert, um... «
Mike brach mitten im Wort ab, runzelte die Stirn und sah Serena fragend an.
»Wie bist du an die Frucht gekommen?« wollte er wissen.
Serena grinste. »Ich habe Astaroth gebeten, sie mir zu holen«, antwortete sie. »Was denn sonst? Schließlich ist er eine Katze, und Katzen klettern gern auf Bäume, oder?«
Mike wußte für den Moment nicht, ob er lachen oder wütend werden sollte. Er entschied sich für Lachen, und sei es nur, um Serena nicht allzu deutlich zu zeigen, wie sehr er sich über ihren kleinen Streich ärgerte. Bei passender Gelegenheit, dachte er, würden sie sich einmal gründlich über Serenas etwas sonderbaren Sinn für Humor unterhalten müssen. Schließlich hätte er sich bei der Kletterpartie sämtliche Knochen brechen können. Er beschloß aber, für den Moment das Thema zu wechseln.
»Hat Trautman mit Annie gesprochen?« fragte er, während sie die Früchte auf das Blatt häuften. »Ja«, bestätigte Serena. »Während du geschnarcht hast, als wolltest du den ganzen Wald absägen. Aber er hat nicht viel Neues erfahren. Sie ist immer noch sehr verstört. Ich hoffe, sie kommt darüber hinweg. « »Wenigstens wissen wir jetzt, wo ihre Eltern sind«, antwortete Mike. »Und daß sie noch leben. « »Hoffentlich«, sagte Serena.
Mike hielt für einen Moment in seiner Arbeit inne und sah auf. »Wie meinst du das?«
»Sie hat zwar erzählt, daß die Drachen ihren Vater und die anderen weggeschleppt haben«, antwortete Serena, »aber nicht, daß sie sie am Leben gelassen haben, oder? Sie waren vielleicht nicht besonders begeistert davon, daß man auf sie geschossen hat. « Natürlich hatte Mike auch schon daran gedacht. »Sie werden sie bestimmt nicht überwältigt haben, nur um sie dann umzubringen«, sagte er. »Das sind keine Tiere, Serena. Sie tragen Kleider und benutzen Werkzeuge. Es sind intelligente, denkende Wesen. « Das behauptet ihr Menschen von euch auch, sagte Astaroth.