Eigentlich sollte ich nein sagen, damit ihr endlich einmal seht, wie weit ihr ohne mich kommt! Trautman sah Mike fragend an. »Was meint er?«
»Ja«, antwortete Mike.
»Dann machen wir es so«, bestimmte Trautman. »Wir haben noch eine gute Stunde, ehe es dunkel wird. Zeit genug, um den Fluß zu erreichen. Das Gelände ist dort zwar schwieriger, aber der Boden besteht aus Fels, so daß wir keine Spuren hinterlassen werden. « »He, nicht so schnell!« protestierte Ben. »Vielleicht sollten wir ja zur Abwechslung einmal darüber abstimmen, was wir tun. Ich halte es nämlich nicht für eine gute Idee, diesen Ungeheuern auch noch nachzuschleichen. Wir sollten lieber machen, daß wir wegkommen!« Trautman seufzte tief. Er schüttelte den Kopf, aber bevor er antworten konnte, stieß der bewußtlose Saurier ein leises Grollen aus. Einer der Hinterläufe zuckte. Ben wurde blaß. Er sagte nichts mehr, aber er hatte plötzlich auch nichts mehr dagegen, diesen Platz zu verlassen, so schnell es nur ging.
Die Sonne war längst untergegangen, aber es wurde trotzdem nicht richtig dunkel. Sie hatten die vergangene Nacht im Wald verbracht, unter dessen dichtem Blätterdach es ohnehin niemals wirklich hell wurde, aber hier am Ufer des breiten Flusses schien es dafür niemals richtig dunkel zu werden. Der Himmel war nicht schwarz, wie Mike und die anderen es gewöhnt waren, sondern von einem tiefen Indigoblau, und die Sterne strahlten viel heller als normal; sie wirkten wie kleine Scheinwerfer, die dafür sorgten, daß man so weit und klar sehen konnte wie in einer wolkenlosen Vollmondnacht.
Nur daß es am Himmel überhaupt keinen Mond gab. Mike saß schon eine ganze Weile hier am Flußufer und zerbrach sich den Kopf darüber, ob nun tatsächlich Neumond oder ob auch dies ein weiteres Rätsel dieser geheimnisvollen Welt war, die sie betreten hatten und die
sich noch viel, viel mehr von der ihnen bekannten unterschied, als er vermutlich auch jetzt noch ahnte. Außerdem beobachtete er einen Schatten, der über ihnen kreiste. Gegen das dunkle Blau des Himmelsgewölbes hob er sich nur undeutlich ab, trotzdem aber klar genug, um ihn wiederzuerkennen. Es war das riesige Geschöpf, das er am ersten Morgen gesehen hatte, noch vom Deck der NAUTILUS aus. Es ähnelte tatsächlich ganz vage einer Fledermaus, aber wäre es näher gekommen, hätte dieser Vergleich nicht lange standgehalten. Von Chris wußte er, daß es ein Flugsaurier mit dem schier unaussprechlichen Namen Quetzalcoatlus war, ein riesiges, fast zehn Meter messendes Tier, das aber trotzdem nur Jagd auf Beute machte, die wesentlich kleiner als ein Mensch war. Das Geräusch leichter Schritte drang in seine Gedanken und ließ ihn aufsehen. Irgendwie hatte er gespürt, daß es Serena war, noch ehe er sie erkannte. Er lächelte, rückte ein Stück zur Seite, und sie setzte sich auf den runden Felsen am Flußufer, auf dem er Platz genommen hatte. Serena sagte nichts. Eine ganze Weile saßen sie in einem sonderbar wohltuenden, vertrauten Schweigen nebeneinander da und blickten auf den Fluß hinaus, dessen Wasser in der Nacht wie geschmolzenes Silber aussah. Manchmal bewegten sich große, dunkle Umrisse darin, aber sie erschreckten Mike jetzt nicht mehr. Eine sonderbare Veränderung war mit ihm vorgegangen, seit sie am Nachmittag auf die beiden Dinosauroiden getroffen waren. Während des ersten Tages hier hatte er praktisch
ununterbrochen Angst gehabt. Jetzt aber spürte er sie kaum noch. Es war, als begänne diese Welt, so fremdartig und bizarr sie auch sein mochte, unmerklich ihren Schrecken zu verlieren. Serena lehnte sich leicht gegen seine Schulter. »Ich frage mich, was wir noch alles entdecken werden«, sagte sie. »Das alles hier ist so... so phantastisch. « »Das sagst ausgerechnet du?« Mike lachte leise. »Ich glaube, deine Heimat wäre uns genauso phantastisch vorgekommen wie diese Insel hier. « »Vielleicht«, antwortete Serena. »Trotzdem ist es anders. Atlantis und eure Welt, das ist irgendwie dasselbe. Aber das hier ist... « Sie suchte nach den richtigen Worten und fand sie nicht. »Meine Eltern haben es mir als Märchen erzählt, weißt du? Und plötzlich bin ich mitten drin. Es ist ein komisches Gefühl, wenn Legenden wahr werden. «
So wie die von Atlantis, dachte Mike. Laut sagte er: »Und? Hast du immer noch Angst davor?« »Diehabe ich nie gehabt«, behauptete Serena -ohne die mindeste Spur von Überzeugung. »Doch, die hattest du«, sagte Mike. »Ich habe den anderen nichts davon verraten. Aber du hattest panische Angst vor dem, was uns hier erwartet. Verrätst du mir jetzt, warum? Ich meine, den Rest der Geschichte, den du bisher für dich behalten hast?« Er wäre nicht überrascht gewesen, hätte Serena weiter geleugnet, aber sie schwieg nur einige Zeit. Dann beugte sie sich vor, hob eine Handvoll kleiner Steinchen auf und begann sie in den Fluß zu werfen, jeden ein kleines Stückchen weiter als den vorhergehenden. »Es heißt, daß auf dieser Insel die Wahrheit regiert«, sagte sie. »Jeder begegnet sich selbst. «
Mike sah sie fragend an. »Die Wahrheit? Was soll das heißen?«
Serena zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Ich erzähle nur, was die Legende sagt. Nur wenige von denen, die sie betreten haben, haben sie jemals wieder verlassen. «
»Aber die Könige von Atlantis schon. « »Sie mußten es«, sagte Serena.
Mike sah auf und rückte zugleich ein kleines Stück von Serena fort, um ihr besser ins Gesicht sehen zu können. »Wie meinst du das?«
»Es war... Bedingung«, antwortete Serena. »Wer den Thron von Atlantis besteigen wollte, mußte vorher hierherkommen. Und nur, wer den Weg zurück fand, war würdig, über Atlantis zu herrschen. « Es dauerte lange, bis Mike begriff, was Serenas Worte bedeuteten. »Bist du deshalb hierhergekommen?« fragte er.
Serena schwieg. Sie sah ihn nicht an, sondern fuhr fort, Steine ins Wasser zu werfen.
»Genau so ist es, nicht wahr?« fuhr Mike nach einer Weile fort. Er hätte zornig werden müssen, aber irgendwie gelang es ihm nicht. »Du hast sofort gewußt, um welche Insel es sich handelt. Gleich als du die Küste gesehen hast. Deshalb mußtest du hierher. « Serena tat ihm plötzlich unendlich leid. Zögernd hob er die Hand und berührte ihre Wange.
»Atlantis existiert nicht mehr, Serena«, sagte er sanft.
»Es ist untergegangen, schon vor sehr, sehr langer Zeit. «
Serena schob seine Hand beiseite. »Für dich vielleicht«, sagte sie. »Und für deine Freunde. Für mich nicht. Für mich ist es... erst gestern gewesen. Ich wollte das nicht, Mike. «
»Was?« fragte Mike. »Überleben?« »Nicht so«, antwortete Serena ernst. »Sie haben mir nicht gesagt, was mich erwartet. Ich wußte nicht, daß ich... so lange schlafen würde. Und ich wußte nicht, daß alles, was ich gekannt habe, nicht mehr da sein würde, wenn ich aufwache. «
»Nicht alles«, sagte Mike. »Astaroth ist noch da. Und die NAUTILUS. « »Astaroth!« Serena drehte mit einem Ruck den Kopf weg, aber sie tat es nicht schnell genug, um Mike nicht sehen zu lassen, daß sie gegen die Tränen ankämpfen mußte. »Er ist nur ein Tier. Ein kluges Tier und vielleicht der beste Freund, den ich je hatte. Ich liebe ihn, aber... ich war eine Prinzessin, Mike. Ich hätte eine ganze Welt geerbt, und es gab so viele Menschen, die ich liebte und die mich liebten. Und alles, was mir geblieben ist, sind ein einäugiger Kater und ein Schiff. « »Und das haben wir dir weggenommen«, sagte Mike traurig.