»Darum geht es nicht«, sagte Serena leise. »Ihr könnt es haben. Ich kann ohnehin nichts damit anfangen. Es sei denn, es könnte mich nach Hause bringen. « »Und wenn es das kann?« fragte Mike. Serena sah ihn fragend an, und Mike fuhr plötzlich aufgeregt fort: »Es hat uns hierhergebracht, Serena, an einen Ort jenseits der Wirklichkeit. Wer weiß, was es noch alles vermag. Vielleicht kann es sogar den Rückweg in deine Heimat finden. «
»Nein«, antwortete Serena traurig. »Glaub mir, das kann es nicht. Die NAUTILUS ist ein phantastisches Schiff. Das beste, das wir je gebaut haben. Ich habe keinen Witz gemacht -es hätte wirklich eines Tages mir gehört, so wie es meinem Vater gehört hat, als er noch Herrscher über Atlantis war. Unsere Technik war der euren weiter überlegen, als du dir auch nur vorstellen kannst. Aber die Zeit besiegen, Mike, das konnte sie nicht. Hätte sie es gekonnt, wäre ich jetzt nicht hier. Und ihr auch nicht«, fügte sie nach einer unmerklichen Pause hinzu.
Aber so rasch war Mike nicht umzustimmen. Der Gedanke, einmal formuliert, begann sich selbständig zu machen und ließ ihn nicht mehr los. »Vielleicht existiert Atlantis ja doch noch irgendwo«, sagte er. »Dieses Land hier liegt jenseits der Zeit. Das hier ist die Welt, wie sie hätte werden können, wären die Saurier nicht ausgestorben. Vielleicht gibt es noch mehr solcher Orte. Vielleicht gibt es auch noch einen Ort, an dem Atlantis nicht untergegangen ist. Und vielleicht können wir ihn finden. «
»Ja, und vielleicht fliegen die Menschen eines Tages zum Mond oder bauen Maschinen, die das Denken für sie übernehmen«, sagte Serena spöttisch. »Laß es gut sein, Mike. Ich weiß, daß du mich trösten willst, und ich bin dir dankbar dafür. Aber Atlantis ist untergegangen. Keine
Macht der Welt kann es wieder auferstehen lassen. «
Mike widersprach nicht mehr, obwohl Serena ihn keinesweg überzeugt hatte. Irgendwann einmal, dachte er, würden sie es einfach versuchen. Sie hatten die Geheimnisse der NAUTILUS noch lange nicht vollständig ergründet. Nicht einmal Trautman hatte das, obwohl er fast sein ganzes Leben auf dem Schiff verbracht hatte. Vielleicht würde sie dieses Schiff tatsächlich eines Tages dorthin zurückbringen, wo es hergekommen war. Aber jetzt war nicht der Moment, darüber zu reden. Und ganz tief in sich war Mike nicht davon überzeugt, daß er das wirklich wollte. Denn Atlantis wiederzufinden hieße gleichzeitig, Serena zu verlieren. »Hat dein Vater dir auch erzählt, wie man wieder von hier wegkommt?« fragte er, um das Thema zu wechseln. Serena schüttelte traurig den Kopf. »Es gibt keinen bestimmten Weg zurück«, sagte sie. »Die Insel bestimmt, wen sie gehen läßt und wen nicht. « Was soll das nun wieder bedeuten? dachte Mike. Aber bevor er dazu kam, die Frage laut auszusprechen, hörte er abermals Schritte, und Trautman kam zu ihnen. Ein väterliches Lächeln zeigte sich auf Trautmans Zügen, als er Serena und ihn Arm in Arm so dasitzen sah. »Entschuldigt«, sagte er. »Ich wollte euch nicht stören. « »Das haben Sie nicht«, sagte Mike. Er rückte hastig ein kleines Stück von Serena weg und wäre dabei fast von seinem steinernen Sitz gerutscht. Erst im letzten Moment und ziemlich ungeschickt fand er sein Gleichgewicht wieder. Trautman war diplomatisch genug, so zu tun, als hätte er nichts davon bemerkt.
»Astaroth ist zurück«, sagte er. »Es wird Zeit. « Serena und Mike sprangen gleichzeitig auf die Füße. »Zeit? Wofür?«
»Was hat er entdeckt?« fügte Serena hinzu. »Das Lager der Dinosauroiden«, antwortete Trautman. »Es ist nicht sehr weit entfernt. Drei, vier Meilen allerhöchstens. Wir könnten es in einer Stunde erreichen. Seht ihr den großen Baum dort?« Er wies auf einen verschwommenen Schatten, der sich bucklig über die schwarze Silhouette des Waldes erhob. »Es liegt gleich dahinter. Die Gefangenen sind dort. « »Annies Vater und die anderen?« fragte Mike. »Das konnte er nicht herausfinden«, erwiderte Trautman. »Aber es sind Menschen -also liegt die Vermutung nahe. Ich glaube nicht, daß es hier von Schiffbrüchigen nur so wimmelt. Leider«, fügte er nach einer fast unmerklichen Pause, aber in deutlich besorgterem Tonfall hinzu, »hat er noch etwas herausgefunden. « »Und was?«
»Sie sind in der Nähe der Herde, wie wir vermutet haben«, antwortete Trautman. »Aber es sind sehr viele. Dutzende, wenn nicht gar Hunderte, das konnte er nicht genau sagen. Und es sieht so aus, als ob sie die Gefangenen fortbringen wollen - noch in dieser Nacht. «
»Dann haben wir nicht mehr viel Zeit«, sagte Serena entschlossen.
Die Herde lag unter ihnen wie ein schwarzer, lebender Teppich. In der Nacht waren die einzelnen Tiere nicht mehr zu unterscheiden, so daß Mike nur ein gewaltiges Wogen und Gleiten wahrnahm, das die Ebene vom Flußufer auf der einen bis zum Horizont auf der anderen Seite bedeckte und aus dem ein beständiges Rumoren und Dröhnen zu ihnen herauftönte. Manchmal, wenn der Wind sich drehte, wurden diese Geräusche lauter, und er trug den Geruch der Herde zu ihnen empor, der sehr durchdringend und sehr fremdartig, aber nicht unangenehm war. Die meisten Tiere schienen zu schlafen, aber hier und da bewegte sich doch ein kolossaler Schatten, schimmerte eine Hornplatte im Sternenlicht.
Mike saß jetzt seit einer halben Stunde auf dem Ast und blickte auf die Triceratopsherde hinab, und er hätte es noch stundenlang weiter tun können; der Anblick war bizarr, aber zugleich auch faszinierend. Es war eine Sache, von Chris zu hören, daß diese Geschöpfe, von denen jedes einzelne doppelt so groß wie ein ausgewachsener Elefantenbulle war und an die zehn Tonnen wiegen mußte, in Herden von Tausenden über das Land zogen, aber eine ganz andere, es mit eigenen Augen zu sehen.
Zur Rechten, direkt vor und unter ihnen wogte die ungeheuerliche Masse der Herde, während zur Linken der Fluß wie ein silbernes Band durch die Nacht schnitt. Ein halbes Dutzend Lagerfeuer brannte am Ufer, und manchmal rissen die zuckenden Lichtreflexe der Flammen einen buckligen Schatten aus der Schwärze; eines der sonderbar geformten Zelte, in denen die Hirten schliefen, die nicht an den Feuern saßen und sich mit ihren schnatternden Stimmen unterhielten oder auf Wache um das Lager patroullierten. In einem dieser Zelte, so hatte Astaroth berichtet, befanden sich Annies Vater und seine drei Begleiter. Sie waren nicht einmal bewacht. Aber das war auch nicht nötig. Das Zelt befand sich im Herzen des Lagers, und selbst, wenn sie es irgendwie hätten verlassen können, ohne von den Dinosauroiden bemerkt zu werden, wären sie nicht sehr weit gekommen. Die Triceratopsherde bildete eine sicherere Barriere, als es jede Mauer oder jeder Zaun gekonnt hätte. Und es gab absolut keinen Weg dorthin. Das ist wieder einmal typisch für euch, sagte eine spöttische Stimme in Mikes Gedanken. Was euch nicht auf Anhieb einfällt, das geht eben nicht, wie? Phantasie ist hier gefragt, Improvisationstalent und vielleicht ein bißchen Einsatz.
»Astaroth?« Mike fuhr aus seinen Grübeleien hoch und sah sich aufmerksam um. »Bist du das?« Wer denn sonst? maulte der Kater. Weißt du sonst noch jemanden, der ständig für euch die Drecksarbeit macht und sich dafür auch noch verhöhnen läßt? Nebenbei -könntest du mir vielleicht ein wenig zur Pfote gehen? Mike sah sich noch aufmerksamer um, konnte den Kater aber immer noch nirgends entdecken. Erst als er ein klägliches Miauen unter sich hörte und den Blick senkte, sah er ihn. Astaroth klammerte sich einen halben Meter unter ihm an den Baumstamm und hatte offensichtlich alle Mühe, sich festzuhalten. Der Stamm war an dieser Stelle fast spiegelglatt, und Mike hatte vorhin selbst bemerkt, daß sein Holz beinahe so hart wie Metall war. Offensichtlich hatte Astaroth seine bergsteigerischen Fähigkeiten ein wenig überschätzt, als er hier hatte hinaufsteigen wollen, statt auf der Rückseite des Stammes, wo Mike und die anderen heraufgekommen waren.