Bevor seine überreizte Phantasie endgültig die Oberhand gewinnen konnte, berührte ihn eine Hand an der Schulter, und Trautmans Stimme flüsterte unmittelbar neben seinem Ohr: »Der Eingang. Geh hin und halt die Augen offen!«
Das war zwar ein durchaus umsichtiger Gedanke, aber leider auch viel leichter gesagt als getan. Mike hatte mittlerweile vollends die Orientierung verloren. Er gehorchte Trautman und kroch auf gut Glück los -mit dem Ergebnis, daß er irgendwo anstieß und Lärm verursachte.
Und die Reaktion blieb nicht aus. Die bisher gleichmäßigen Atemzüge eines der Schläfer veränderten sich plötzlich. Ein Räuspern und Schnauben erklang, und dann konnte Mike hören, wie sich jemand umständlich aufsetzte. »Was ist denn los?« murmelte eine verschlafene und leicht verärgert klingende Stimme. »Matthew, bist du
- ?« »Keinen Laut!« sagte Trautman erschrocken. »Um Gottes willen, seien Sie still!«
Die Stimme verstummte tatsächlich, und für ungefähr eine Sekunde wurde es absolut still. Dann raschelte etwas, und plötzlich durchschnitt ein weißer, sehr heller Lichtstrahl die Dunkelheit und richtete sich direkt auf Trautmans Gesicht. Trautman zog eine Grimasse und hob hastig die Hand vor die Augen. »Machen Sie das Licht aus!« sagte er erschrocken. »Wollen Sie, daß sie uns erwischen?« Das Licht erlosch keineswegs, aber der Lichtstrahl ließ zumindest Trautmans Gesicht los, huschte einmal durch den Raum und richtete sich dann gegen die Decke. Mike sah jetzt, warum es ihm so schwergefallen war, die Zeltplane anzuheben. Sie bestand nämlich keineswegs aus Stoff, sondern aus einem sonderbar grob anmutenden Leder -das zweifellos nichts anderes als Dinosaurierhaut war und somit viel dicker und schwerer als das Leder, das Mike kannte. Nachdem der Bärtige die Lampe gehoben hatte, wurde es schlagartig viel heller im Zelt. Mike blickte automatisch nach oben und erkannte, daß unter dem Zeltdach ein gebogener Spiegel aus kupferfarbenem Metall befestigt war, der das Licht der kleinen Lampe zurückwarf und zugleich im ganzen Raum verteilte: eine Anordnung, die mit einem Minimum an Aufwand für ein Maximum an Ergebnis sorgte.
Im Licht dieser erstaunlichen Lampe erkannte er vier niedrige, mit Stroh gedeckte Liegen, auf denen sich nun nacheinander drei Männer und eine sehr junge Frau aufrichteten. Sie wirkten ziemlich verschlafen, und bis auf den bärtigen Mann, der die Lampe hielt, schienen sie im allerersten Moment gar nicht zu begreifen, was sie sahen. Selbst dieser starrte Trautman nur mit offenem Mund an. »Mister Mason?« fragte Trautman hastig. Zwei der Männer nickten, und Trautman wandte sich der Einfachheit halber an den, der die Lampe hielt. »Bitte stellen Sie jetzt keine überflüssigen Fragen. Wir haben nicht viel Zeit. Wir sind hier, um Sie herauszuholen. «
Der Bärtige nickte und stellte natürlich doch sofort eine Frage: »Wer... wer sind Sie?« »Freunde Ihrer Tochter«, antwortete Trautman. »Annie?« Mason richtete sich mit einem Ruck vollständig auf: »Was ist mit ihr? Ist sie gesund?« Trautman deutet ihm hastig, leiser zu sein. »Ihrer Tochter geht es gut«, antwortete er. »Wir bringen Sie zu ihr -wenn Sie ein bißchen vorsichtiger sind, heißt das. Nicht so laut. Und bitte, machen Sie das Licht aus!« Er wandte sich wieder an Mike. »Zum Ausgang, schnell. « Mike tat endlich, was Trautman ihm sagte, und kroch auf Händen und Knien zur anderen Seite des Zeltes. Der Ausgang war mit einer schweren Zeltplane verschlossen, und es bereitete ihm einige Mühe, sie so weit aufzuschieben, daß er hindurchspähen konnte. Aber er achtete streng darauf, daß kein verräterischer Lichtstrahl nach draußen fiel. Sekundenlang blickte er gebannt in die dunkelblaue Nacht hinaus, die das Zelt umgab, dann machte er eine beruhigende Geste in Trautmans Richtung.
»Wo ist sie?« fuhr Mason, der natürlich gar nicht daran dachte, die Lampe zu löschen, aufgeregt fort. »Was ist mit meiner Tochter? Wo haben Sie sie gefunden?« »Sie ist ganz in der Nähe«, antwortete Trautman. »Wir bringen Sie zu ihr. Wenn wir hier herauskommen, heißt das. Was ist mit Ihnen? Sind Sie unverletzt? Können Sie laufen?«
»Uns ist nichts passiert«, antwortete Mason. »Sie haben uns nichts getan, bisher wenigstens. Aber wo kommen Sie her. Wer - «
Mike hörte nicht weiter zu, denn in diesem Moment erklang wieder Astaroths lautlose Stimme in seinen Gedanken. Ihr solltet euch lieber ein bißchen beeilen, sagte der Kater. Es könnte sein, daß ihr gleich Besuch bekommt.
Mike fuhr bei diesen Worten so heftig zusammen, daß Trautman mitten im Wort verstummte und ihn aufmerksam ansah. »Was ist?« fragte er. »Hast du etwas entdeckt?«
Mike blickte noch eine Sekunde konzentriert nach draußen, aber vor dem Zelt rührte sich immer noch nichts. Hastig ließ er die Zeltplane wieder zurückfallen, ging zur anderen Seite und spähte unter dem Rand der Plane hindurch. Das Wasser, durch das sie gekommen waren, lag scheinbar zum Greifen nahe vor ihm. Der Fluß glitzerte silbern im Sternenlicht, und zu beiden Seiten erhoben sich die schwarzen Umrisse der Dornenbüsche, die ihn flankierten, wie eine bizarre Burgmauer. Und dahinter...
Es mußten vier oder fünf der Echsenmänner sein, die durch das Wasser auf sie zugewatet kamen. Sie bewegten sich nicht sehr schnell, aber sehr zielstrebig. Und sie waren nicht allein. Mike mußte zweimal hinsehen, um die Geschöpfe zu erkennen, die sie begleiteten. Die Dinosauroiden hielten lange, geflochtene Leinen in den Händen, an denen sie etwas wie eine verkleinerte Ausgabe der Raptoren führten, die Mike und die anderen am vergangenen Abend angegriffen hatten. Die Tiere waren allerhöchstens so groß wie ein Rebhuhn und sahen mit den viel zu groß geratenen Händen und Füßen beinahe tolpatschig aus -aber was sie taten, das war eindeutig: Sie hatten die Köpfe gesenkt und schnüffelten emsig, und auch wenn es Mike fast unglaublich vorkam -sie schienen ihre Spuren selbst im Wasser deutlich verfolgen zu können.
»Hunde!« keuchte er erschrocken. »Sie haben Hunde!« »Hier gibt es keine Hunde«, antwortete Mason automatisch.
»Aber etwas, was den gleichen Zweck erfüllt«, antwortete Mike. Er fuhr herum und sprang mit einem Ruck auf die Füße. »Sie haben unsere Spur gefunden! Dort kommen wir jedenfalls nicht mehr raus. « Trautman wandte sich mit erstaunlicher Ruhe an Mason. »Gibt es einen anderen Weg aus dem Lager?Überlegen Sie! Sie sind seit zwei Tagen hier!« »Wir sind keinen Schritt aus dem Zelt gekommen«, antwortete Mason. »Aber es gibt keinen anderen Weg, glauben Sie mir. «
Doch, den gibt es, sagte Astaroth. Schnell! Ich glaube, sie wissen jetzt, wo ihr seid. Beeilt euch! »Astaroth hat einen Weg gefunden!« sagte Mike. »Schnell jetzt! Raus hier!« »Und wohin?« fragte Trautman. Mike hatte schon dazu angesetzt, loszustürmen, blieb jetzt aber abrupt wieder stehen. Trautman hatte recht. Astaroth war irgendwo draußen, aber er hatte nicht die geringste Ahnung, wo. Wenn sie blindwütig losstürmten, würden sie nur den Dinosauroiden und ihren Hunden in die Arme laufen.
»Wer ist dieser Astaroth?« wollte Mason wissen. Wie auf ein Stichwort hin raschelte es in diesem Augenblick an der Zeltplane vor dem Ausgang, und Astaroth steckte sein einäugiges Katzengesicht zu ihnen herein. Wie lange soll ich eigentlich noch auf euch warten? erkundigte er sich. Oder wollt ihr vielleicht hierbleiben und eine Runde Karten mit den Fischgesichtern spielen?