Die Zeit schien stehenzubleiben. Mike sah aus den Augenwinkeln, wie Singh und auch Trautman versuchten, ihnen zu folgen, aber plötzlich löste sich einer der gigantischen Raubsaurier von seinem Platz am Waldrand und war mit nur zwei gewaltigen Schritten zwischen ihnen und Mike und Serena. Mike bemerkte es gar nicht richtig. Sein Blick war wie hypnotisiert auf das geschuppte Echsengesicht des Dinosauroiden über ihnen gerichtet. Er war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, ja, er konnte nicht einmal wirklich Furcht empfinden. Etwas im Blick dieser großen, nur scheinbar starren Reptilienaugen lähmte ihn. Schließlich, nach Sekunden, die sich zu hundert Ewigkeiten gedehnt hatten, glitt der Echsenmann von seinem Platz im Nacken des riesigen Sauriers herunter, sprang dicht neben Mike und Serena zu Boden und streckte die Hand aus. Mike beobachtete vollkommen fassungslos, wie Serena ohne die mindeste Furcht danach griff und sich von dem fremdartigen Geschöpf auf die Füße helfen ließ.
Dann war er an der Reihe. Ein unheimliches, nie gekanntes Gefühl durchströmte ihn, als er die kalte Schuppenhaut des Wesens berührte. Von dem riesenhaften Geschöpf ging eine Ruhe und ein Gefühl derGeborgenheit aus, das in krassem Widerspruch zu seinem Äußeren stand. Er hatte keine Angst. Er wußte plötzlich, daß es nicht den allermindesten Grund gab, Angst vor diesen Wesen zu empfinden. Ganz ruhig stand er auf und trat einen Schritt zurück und an Serenas Seite. Keiner von ihnen sprach. Dies war nicht der Moment für Worte.
Jetzt verging wirklich eine geraume Weile, in der sie nur dastanden und den Dinosauroiden ansahen, der ihren Blick ruhig erwiderte. Und während er das tat, veränderte sich abermals etwas in Mike. Schon einmal hatte er gespürt, wie falsch der Eindruck war, den sie alle von dieser Welt gehabt hatten, aber nun spürte er es nicht nur, nun wußte er es. Der scheinbare Ausdruck von Fremdartigkeit, von Feindschaft, den er bisher in den Augen der Echsenmänner zu sehen geglaubt hatte, war das Gegenteil
-er stand einem Wesen gegenüber, das unglaublich alt war, auf eine Art und Weise, die sich dem menschlichen Begreifen entzog. Er blickte in die Augen eines Geschöpfes, das in vollkommenem Einklang mit sich und der Natur lebte, einer denkenden Kreatur, deren Volk sechzigmal so lange wie die Menschen Zeit gehabt hatte, seinen Platz im großen Plan der Natur zu finden. Daß es auf dieser Insel kein Zeichen von Technik oder irgendeiner der Menschen vergleichbaren Kultur gab, war kein Zeichen von Rückständigkeit, sondern einer tiefen Bescheidenheit, die Teil der Natur der Dinosauroiden sein mußte - vielleicht hatten diese Wesen irgendwann einmal, vor undenklichen Zeiten, den gleichen Weg beschriften wie die Menschen, aber wenn, dann hatten sie schon vor fast ebensolanger Zeit begriffen, daß er falsch war. Sie brauchten diese Wesen nicht zu fürchten. Die Dinosauroiden wußten nicht einmal, was das Wort Feindschaft bedeutete. Ein zweiter Echsenmann gesellte sich zu ihnen. Auch er kam Mike auf sonderbare Weise bekannt vor und dann sah er, daß er ganz leicht humpelte, und wußte, woher er diese beiden kannte. Es waren die Dinosauroiden, die Ben und er vor dem Allosaurier gerettet hatten jedenfalls hatte er geglaubt, dies zu tun. Der neu hinzugekommene Echsenmann hielt das Gewehr in den Händen, das Singh bisher getragen hatte. Einen Moment lang blieb er reglos stehen, sah erst Mike, dann Serena durchdringend an -und dann zerbrach er die Waffe ohne die mindeste sichtbare Anstrengung in zwei Hälften, die er fallen ließ.
Mike lächelte. Vielleicht würden sie niemals mit diesen Wesen sprechen können, aber es gab Gesten, die wohl überall im Universum und bei allen denkenden Kreaturen verstanden wurden, und das, was der Dinosauroide getan hatte, gehörte dazu.
»Ich... ich glaube, ich habe euch verstanden«, sagte Mike. Und der Dinosauroide schien wohl auch ihn zu verstehen, denn obwohl sein Gesicht nicht in der Lage dazu war, schienen seine Augen doch für einen Moment so etwas wie ein Lächeln auszudrücken. Dann drehte er sich herum und ging zu seinem bizarren Reittier zurück, und auch der zweite Echsenmann stieg wieder auf den Rücken seines Riesensauriers hinauf. Und ebenso lautlos, wie sie erschienen waren, wandten sich die geschuppten Kolosse um und verschwanden wieder im Wald.
Mike stand noch lange da und sah ihnen nach, und selbst, als Serena ihn schließlich an der Schulter berührte, fiel es ihm schwer, in die Wirklichkeit zurückzukehren. Er war plötzlich nicht mehr sicher, daß es so etwas wie eine absolute Wirklichkeit überhaupt gab.
»Warum... warum hast du das getan?« fragte Serena. Sie wirkte sehr verstört.
»Was?« fragte Mike.
»Du bist mir nachgekommen, obwohl... obwohl du glauben mußtest, daß es dein Tod ist«, antwortete Serena. »Warum hast du das getan?« Mike hätte antworten können, daß er einfach Angst um sie gehabt hatte, und das wäre die Wahrheit gewesen, und er hätte auch antworten können, daß er eigentlich gar nicht nachgedacht hatte, sondern einfach blindlings losgestürmt war, und auch das wäre die Wahrheit gewesen, aber statt dessen sagte er: »Weil du dich geirrt hast, Serena. Ebenso wie deine Vorfahren. « »Geirrt? Wieso?«
»Ihr habt geglaubt, daß sie uns Menschen hassen, weil wir alles sind, was sie jemals hätten werden können?«
Mike schüttelte lächelnd den Kopf. »Es ist genau anders herum, Serena. Ich glaube, ich kenne jetzt das Geheimnis dieser Insel. Sie sind alles, was wir vielleicht irgendwann einmal werden können. Sie hassen uns nicht, Serena. Sie wissen nicht einmal, was dieses Wort bedeutet. « »Das verstehe ich nicht«, murmelte Serena. Mike lachte. »Irgendwann wirst du es verstehen«, sagte er.
Und damit legte er Serena den Arm um die Schultern, drehte sich herum, und sie gingen langsam zu den anderen zurück. Hinter ihnen begann der Nebel dichter zu werden, der sie zurück zur NAUTILUS und in ihre Welt bringen würde, von der er nun wußte, daß sie nicht die einzig wirkliche, sondern vielleicht nur eine von zahllosen anderen war. Und vielleicht nicht einmal die beste.