Die Altertumswissenschaft ist ein schönes Mädchen ohne Mitgift.
Jean Francois Champollion
I. Am Anfang war das Pulver
Er hatte vieles erwartet, aber nicht, daß im Innern des riesigen Granitsarges ein Tisch für drei Personen gedeckt war. Mariette meinte: »Es ist nicht sehr geräumig, aber sauber und gemütlich.«
Gelber Staub wirbelte auf unter den Hufen des Schimmels, den Mariette durch die Wüste hetzte: »Allez, Allez!« schrie er immer wieder gegen den heißen Wüstenwind und stieß dem Gaul die Sporen seiner Stiefel in die Flanken. Mit der Rechten hielt er den Zügel, sein linker Arm umklammerte ein Paket Pulver-Stangen. »Allez!«
Irgendwo zwischen den Dörfern Abusir und Sakkara, wo ein paar halbverfallene Pyramiden aus den Sanddünen ragten, knatterte an einer Fahnenstange die Trikolore. Etwa dreißig Fellachen mühten sich in monotonem Singsang mit Hilfe von Holzschaufeln und Körben ein Mauerwerk freizulegen, das knapp einen Meter aus dem Sand ragte und mit einem riesigen Felsbrocken beschwert war. »Bonnefoy!« rief der Reiter, während er vom Pferd sprang und das Pulver-Paket durch die Luft schwenkte. Die Fellachen stellten ihre Arbeit ein. Bonnefoy kam angerannt und band das Pferd fest.
»Damit sprenge ich alle Pyramiden in die Luft«, lachte Mariette, und an seine Grabungsarbeiter gewandt rief er: »Haut ab, Ihr Kaffern, sonst fliegen Euch Eure Vorfahren um die Ohren! Weg da!«
Francois Auguste Mariette pflegte einen nicht gerade gewählten Umgangston, und von weitem hätte man den dreißigjährigen Franzosen, der sich wie die Fellachen aus den Dörfern im Niltal kleidete, auch für einen Ägypter halten können. Seine Haare waren wirr und lang, ein dichter Oberlippenbart hing an den Seiten nach unten, und der blonde Kinnbart in dem von der Sonne verbrannten Gesicht zeigte wenig Pflege.
Die Fellachen warfen ihre Körbe in den Sand und rannten zu der größeren Pyramide, um Schutz zu suchen. »Hast du ein Sprengloch vorbereitet?« fragte Mariette seinen Assistenten. Der zeigte auf einen tiefen Spalt unter dem Mauerwerk: »Ich hoffe, es ist tief genug.« Mariette musterte die Öffnung, steckte eine Stange Sprengstoff hinein, schob eine zweite hinterher und schließlich eine dritte. Die drei Zündschnüre drehte er zusammen und legte die knapp einen Meter lange Lunte. Dann sang er lautstark den Refrain der Marseillaise »An die Waffen, Bürger . . .«, setzte die Zündschnur in Brand und brachte sich eiligst in Sicherheit.
Unter ohrenbetäubendem Knall wurden Felsen, Mauerbrocken und Sand so hoch in die Luft geschleudert, daß sich für Minuten der Himmel verfinsterte wie einst unter den mosaischen Plagen. Mariette und sein Assistent hasteten zur Sprengstelle. Der Wüstenstaub brannte in den Augen. Hustend und schwer atmend starrten sie in den gewaltigen Krater, den das Pulver aufgerissen hatte. Langsam, ganz allmählich, schälte sich aus der gelbbraunen Wolke am Fuße des Trichters eine menschliche Gestalt. »Bonnefoy!« rief Mariette entsetzt, »Bonnefoy, kneif mich mal ins Bein!« Aber Bonnefoy, von seinem Herrn und Meister an alle möglichen Überraschungen gewöhnt, war zu keiner Regung fähig: Vor ihnen lag der mumifizierte Leichnam eines Mannes, als hätten ihn die Leichenbestatter gerade hier niedergesetzt. Das Gesicht des Toten bedeckte eine
Goldmaske. Auf seiner Brust lag ein Falke mit ausgebreiteten Schwingen aus Gold und Email. Amulette hingen an einer Goldkette um seinen Hals, sie trugen den Namen des Prinzen Chaemwese.
Auguste Mariette hatte den Lieblingssohn Ramses II. aus dem Wüstenboden gesprengt, jenen Chaemwese, der lange Zeit Statthalter im nahe gelegenen Memphis war, mehr noch, er hatte den Zugang zu einem Labyrinth entdeckt, in dem man vor 3000 Jahren eine ganze Galerie kostbarer Särge aus der 19. bis 22. Dynastie verborgen hatte. Das geschah am 15. März 1852.
Vor eineinhalb Jahren war Auguste Mariette, der Sohn eines Marineoffiziers aus Boulogne-sur-Mer, mit drei Maultieren, einem Esel und einem Zelt in die Wüste gezogen. Kein Mensch hätte je gedacht, daß diese Reise der Beginn einer unglaublichen Ausgräberkarriere sein würde - am weni-sten er selbst. Vergessen war inzwischen auch der Auftrag. Mit 6000 Francs in der Tasche hatten ihn die Herren vom Pariser Louvre nach Ägypten geschickt, um alte Papyrusrollen zu kaufen. Die Jagd nach Papyri war damals nicht nur eine Sache der Museen, sondern eine ausgesprochene Modeerscheinung. Kein Wunder, man konnte gerade seit ein paar Jahren die rätselhaften altägyptischen Schriftzeichen deuten, man glaubte es zumindest. Den Pyramiden bei Giseh galt Mariettes erstes Interesse. Dort wühlten ein paar Beduinen im Sand auf der Suche nach vergrabenen Schätzen. Auguste, auf dem Gymnasium in Boulogne ein Musterschüler, erinnerte sich eines Satzes des griechischen Schriftstellers Strabo. Irgendwann um die Zeitenwende hatte der Alte geschrieben: »Auch gibt es einen Tempel des Serapis in der Wüste, wo der Wind Sanddünen aufhäuft. Unter dem Sand konnten wir zahlreiche Sphingen erkennen, einige waren fast völlig verschüttet, andere weniger. Wir schlössen daraus, daß der zu diesem Tempel führende Weg recht gefährlich sein müsse, wenn man von einem unvorhergesehenen Sandsturm überrascht wird.«
Sphingen, Löwen mit Menschenköpfen, hatte Mariette schon bei verschiedenen Händlern gesehen. Irgendwo m der Wüste bei Sakkara habe man sie gefunden, lautete die immer wiederkehrende Antwort.
Soll ich anderen Ruhm und Profit dieser Entdeckung überlassen? schoß es Mariette durch den Kopf, während er seinen Esel und die Maultie re mit dem Gepäck in Richtung Süden lenkte. Und beinahe wäre er, in Gedanken versunken, über einen steinernen Kopf gestolpert, der aus dem Sand ragte. Mit bloßen Händen versuchte Mariette den Fund freizulegen; aber der Kopf gehörte zu einer riesigen Sphinx. Mariette ließ Tiere und Gepäck zurück und hastete durch die Sanddünen nach Sakkara.
»Bakschisch, Bakschisch!« rief er schon von weitem. Die Ankündigung blieb nicht ohne Wirkung. Mit einer wilden Horde von dreißig Fellachen kam er zurück und begann noch am selben Tag zu graben.
Unglaublich, was der Wüstenboden schon nach wenigen Tagen freigab, eine Sphinx nach der anderen schälte sich aus dem Sand, manche dicht unter der Oberfläche, andere zehn Meter unter dem Terrain, insgesamt 134 Fabelwesen. Im Abstand von sechs Metern flankierten sie eine ganze Allee, an deren Ende, so vermutete Mariette, der Zugang zu dem Serapis-Tempel liegen mußte. Er grub, schaufelte und wühlte -überall Sand, zwischen den Zähnen, in den Haaren, unter der Kleidung - Sand, immer nur Sand. Nach knapp einem halben Jahr hatte Auguste Mariette seine 6000 Francs aufgebraucht, er war auf Gräber und Statuen gestoßen, wertvolle Funde gewiß; aber den Zugang zu dem unterirdischen Tempel hatte er nicht gefunden. »Bonnefoy«, sagte er eines Abends im Zelt zu seinem Assistenten, »unser Traum wird sich nicht erfüllen. Die Wüste wird ihr Geheimnis behalten.«
Bonnefoy, beinahe doppelt so alt wie Mariette, sah die Enttäuschung im Gesicht des Ausgräbers. »Wir können zufrieden sein mit unseren Funden. Wenn wir nur einen Teil davon nach Paris schicken, wird man im Louvre hocherfreut sein.«
»Aber es ist kein einziger Papyrus darunter. Die wollen doch nur Papyrusrollen!«
»Wir haben 134 Sphingen gefunden«, erwiderte Bonnefoy, »jede einzelne ist mehr wert, als unsere gesamte Grabung gekostet hat!«
Mariette wurde wütend: »Was nützen uns 134 Kolosse in der Libyschen Wüste. Jeder wiegt mindestens 20 Tonnen. Der Transport nach Paris kostet mehr als so ein Ding wert ist.«
»Aber die Grabbeigaben und Statuen . . .« Schließlich einigten sich die beiden, die besten Fundstücke in sechs selbstgezimmerte Holzkisten zu verpacken und per Schiffsfracht nach Paris zu schicken. In einem Brief kündigte Auguste Mariette die kostbare Sendung an und fragte zaghaft, ob der Louvre bereit sei, eine weitere Grabungssaison zu finanzieren. Möglicherweise stehe eine große Entdek-kung bevor.