An diesem Abend diktierte Scheich Achmed seinem Schüler einen arabischen Brief in die Feder. Dann führte er das von Brugsch beschriebene Blatt dicht an sein halbblindes Auge, las und lobte ihn wegen der fehlerfreien Arbeit. Brugsch stutzte. Da er sich bei einigen der nur nach dem Gehör geschriebenen Wörter keineswegs sicher gewesen war, neigte er sich zu dem Alten hinüber, um ihn zu fragen, ob diese Wörter tatsächlich so geschrieben wurden, und registrierte dabei, daß Scheich Achmed das Blatt verkehrt unter seinem Auge hielt.
»Ich glaube, Scheich, du kannst nicht einmal lesen?« rief Brugsch.
»O mein Sohn«, jammerte Achmed, »du hast recht, ich kann weder lesen noch schreiben. Aber Allah ist barmherzig und wird mir weiterhelfen.«
Unter diesen Voraussetzungen, meinte Brugsch, sei an eine Auszahlung des vereinbarten Honorars natürlich nicht zu denken. Achmed sah das ein und verabschiedete sich mit tiefen Bücklingen.
Früh am ändern Morgen wollte Auad kommen. Sie hatten sich vorgenommen, diesmal den steilen, steinigen Pfad über den Felsenkamm ins Tal zu nehmen. Dort oben, behaupteten die Fellachen von el-Kurna, sei ein Trichter zu erkennen, der durchaus Zugang zu einem Grab sein könnte. Die Wahrscheinlichkeit, ausgerechnet an dieser unzugänglichen Stelle ein Grab zu finden, war zwar gering - wie sollte man einen tonnenschweren Sarkophag und sperrige Grabbeigaben dort hinauf transportieren? -, doch das Grab des dritten Ameno-phis hatte man auch abseits auf dem gegenüberliegenden Bergrücken gefunden. Man durfte nichts unversucht lassen. »Effendi!« Auad kletterte schnaufend den schmalen Steig zur Behausung des Forschers empor. Schon von weitem schwenkte er einen Brief über dem Kopf. »Effendi, Post aus Berlin!«
Brugsch riß Auad den Brief aus der Hand und öffnete ihn zitternd. »Der gute alte Alexander von Humboldt«, murmelte er ohne aufzusehen, und dann las er halblaut die enggeschriebenen Zeilen:
»Mein teurer Brugsch! Ich habe mir bittere Vorwürfe zu machen, daß ich Ihnen nicht öfter und früher Zeichen des Lebens, der innigsten Freundschaft und des Dankes für so überaus wichtige und liebevolle Briefe gegeben habe. Aber der Gedanke, daß Sie auch nur einen Augenblick an meiner innigen Anhänglichkeit, an meiner immer zunehmenden Achtung für Ihr schönes Talent und Ihre beispiellose und doch so geregelte Tätigkeit zweifeln könnten, kann mir nicht in den Sinn kommen. Fast jeder Ihrer Briefe, auch die an mich gerichteten, ist dem König vorgelegt und von Ihm mit dem Wohlwollen, das Er Ihnen so unabänderlich schenkt, angehört worden.
Ob diese Zeilen sicher in Ihre Hände kommen, mein teurer Doktor, scheint mir sehr ungewiß. Ihr Hauptzweck ist der, Ihnen die frohe Nachricht zu geben, daß es mir leicht gewesen ist, vom König für Sie wieder auf ein ganzes Jahr 1500 Thaler zu erlangen. Ich bin mit Geh.Kab.-Rat Illaire, der Ihnen sehr gewogen ist, übereingekommen, daß Ihnen bei Herrn Kammerherrn und Generalkonsul Baron von Pentz ein Kredit von 1500 Thalern auf die Legationskasse eröffnet werde.
Meine Gesundheit ist im ganzen dieselbe, nur in der letzten Zeit habe ich die gewöhnlichen Leiden, Verstopfung wie Schnupfen und Husten mehr gehabt. Empfangen Sie, teuerster Brugsch, die erneuerte Versicherung meiner unverbrüchlichen Anhänglichkeit. Ihr Alexander von Humboldt.«
Auad sah den Effendi fragend an. Der strahlte über das ganze Gesicht und sagte: »Auad, heute wird nicht gegraben, heute wird gefeiert!«
»Ist es nicht famos? Sag, ist es nicht famos?« rief Said Pascha immer wieder und puffte seinem Gegenüber in die Seite. Der lachte schallend und blickte von seinem plüschbezogenen Sessel auf die öde Nildelta-Landschaft, die an ihnen vorüberflog. Die Szene spielte in einem roten Salonwagen der Dampfeisenbahnlinie Alexandria-Kairo. Ein offenes Loko-mobil mit einem drei Meter hohen Schornsteinrohr stieß qualmende Rauchwolken aus und zog Kohlenwagen und zwei Anhänger durch die Landschaft. Said Pascha, der neue Vizekönig von Ägypten, freute sich wie ein Kind, qualmte mit der Lokomotive um die Wette und stieß in Abständen Pfeiftöne aus. Fellachen zu beiden Seiten des neuen Bahndammes verneigten sich und fielen auf die Knie, wenn das Stampfende Dampfroß mit dem buntgeschmückten Wagen des Paschas an ihnen vorüberdonnerte. Maschallah! Said war einer der vier Söhne Mohammed Alis, die ihren Vater überlebt hatten - die übrigen achtzig waren bereits tot. Seine Leibesfülle erforderte den dreifachen Stoffaufwand für die Gehröcke, die er mit Vorliebe trug. Ein rötlichblonder Vollbart umrahmte das heitere Gesicht, in dem zwei winzige Äuglein zwinkerten. Der Mann im Fauteuil gegenüber war das ganze Gegenteil, hager, ernst, aber nicht ohne Liebenswürdigkeit. Sein Name: Ferdinand de Lesseps, französischer Ex-Diplomat.
Siebzehn Jahre hatten sich die beiden nicht gesehen; damals waren sie als die besten Freunde auseinandergegangen. Said verdankte Ferdinand einen guten Teil seines Leibesum-fangs; denn er war es gewesen, der dem pummeligen Prinzen, welcher unter dem gestrengen Auge seines Vaters meist nur Bohnen und Salat zum Essen bekam, im nahe gelegenen Konsulat Riesenportionen Pommes frites zukommen ließ. Zuhause in Frankreich hatte er von der Ernennung Saids zum Vizekönig gehört, er hatte ihm eine Glückwunschadresse übersandt und war vom neuen Khediven postwendend nach Kairo eingeladen worden. »Eines muß man diesen Engländern lassen«, sagte Lesseps, der von einem livrierten Diener gerade eine Tasse Tee in Empfang nahm, »sie sind Meister im Bau von Dampfeisenbahnen.«
»Es war die einzige vernünftige Tat von Abbas Pascha, diesen Stephenson ins Land zu holen«, sinnierte Said. »Jetzt ist die Entfernung von Alexandria nach Kairo auf eine einzige Tagesreise zusammengeschrumpft. Zu Schiff durch das Delta waren wir eine ganze Woche unterwegs.« Er rückte näher an den Franzosen heran: »Im Vertrauen gesagt, ich will eine zweite Dampfeisenbahnlinie von Kairo nach Suez bauen lassen. Dann sind Mittelmeer und Rotes Meer auf dem Schienenweg verbunden.« Ferdinand wiegte den Kopf hin und her. »Dir gefällt meine Idee wohl nicht, he?« fragte Said und wedelte mit der Hand die Rauch- und Staubwolken vom Gesicht, die der Fahrtwind durch die offenen Fenster trieb.Les-seps erhob sich, stellte sich breitbeinig vor das Fenster und blickte auf die eintönige Deltalandschaft. »Das wäre gewiß ein Fortschritt«, meinte er, »und der Fortschritt läßt sich auch in deinem Land nicht aufhalten, aber volkswirtschaftlich klug ist es nicht. . .« Der Pascha sah seinen Freund an, er verstand ihn nicht »Nun ja«, begann Lesseps von neuem, »deine Dampfeisenbahn wird sicher mehr Europäer ins Land locken, Europäer, die bisher nur die Hafenstadt Alexandria kannten, weil ihnen die Reise durch das Delta zu beschwerlich war. Immerhin dauerte sie länger als die Überfahrt von Italien. Aber ob deine Dampfeisenbahn ein bedeutender Wirtschaftsfaktor für dein Land werden wird, das will ich bezweifeln. Wenn Ägypten die industrielle Revolution nicht an sich vorüberzie -hen lassen will, dann mußt du andere Projekte angehen. Ich denke da speziell an ein Projekt, es würde die Bedeutung deines Landes für ganz Europa in unvorstellbarem Maße steigern, Ägypten könnte zur Weltmacht werden.« Said Pascha lachte. »Du meinst den Kanal zum Roten Meer. Seit Napoleon läßt euch Franzosen diese Idee keine Ruhe. Aber war es nicht auch eine französische IngenieurKommission, die vor fünfzig Jahren zu dem Ergebnis kam, daß der Wasserspiegel des Roten Meeres um zehn Meter höher liege?«