»Diese Berechnungen sind längst korrigiert, seit einem Jahr steht absolut fest, daß beide Meeresspiegel bei ungünstigsten Flutverhältnissen nur um 94 Zentimeter differieren.« »Ja, ja, ich weiß. Schon mein Vater Mohammed trug sich mit dem Gedanken. Ich war damals noch ein kleiner Junge, als Ingenieure, Landwirte, Schriftsteller und Handwerker aus Frankreich kamen und meinen Vater von der Notwendigkeit dieses Projektes zu überzeugen versuchten. Sonderbare Leute waren das, alles Idealisten, sie wollten gar keinen Gewinn machen, sie behaupteten, im Interesse der Menschheit zu handeln. Aber damals herrschten unruhige Zeiten, und deine Landsleute fuhren unverrichteter Dinge nach Hause.«
»Weißt du«, begann Lesseps, »ich habe die letzten Monate viel Zeit gehabt und mir so meine Gedanken gemacht...« : Die Verbindung zwischen Mittelmeer und Rotem Meer war ein uralter Menschheitstraum. Schon 2000 Jahre vor der Zeitenwende soll ein Kanal bestanden haben, unter Ramses II. wurde eine zweite Verbindung geschaffen, und der Pharao Necho begann um 600 v. Chr. einen dritten Durchstich, den der Perserkönig Darius dann vollendete. Alle drei Projekte verbanden die beiden Meere nicht direkt, sondern das Rote Meer mit dem Nil, und alle drei Projekte hatten das gleiche Schicksal, sie versandeten. Der letzte Kanal verfiel im 8. Jahrhundert.
Um 1500 wurde der Seeweg nach Indien um das Kap der Guten Hoffnung entdeckt. Zeit spielte keine Rolle, man nahm die 4500 Seemeilen Umweg in Kauf, und die Verbindung der Meere geriet völlig in Vergessenheit. Doch als dann im 19. Jahrhundert Zeit auf einmal Geld wurde und die indu-strielle Revolution allerorten ihren Tribut forderte, rückte auch das Kanalprojekt wieder ins Bewußtsein. Seit 1847 gab es eine Planungsgesellschaft für das Kanalprojekt, die sich aus französischen, deutsch-österreichischen und englischen Ingenieuren zusammensetzte. Ihr Sitz: Rue de la Victoire 34, Paris. Auch Ferdinand de Lesseps war Mitglied dieser Gesellschaft; aber nun unternahm er einen Alleingang. Lesseps verstand es, seinen Freund für das Jahrhundertprojekt zu interessieren. Wenige Tage nach der Ankunft in Kairo überreichte der Franzose dem Vizekönig bereits detaillierte Pläne zum Bau des Suezkanals. Said Pascha unterzeichnete die Dokumente am 13. November 1854, ohne sie gelesen zu haben, und erteilte Lesseps die Konzession zur Gründung einer internationalen Baugesellschaft, der Com-pagnie Universelle du Canal Maritime de Suez. Der Kommentar, den Lesseps dazu abgab, sparte nicht mit Superlativen: »Die Namen der ägyptischen Herrscher, welche die Pyramiden errichteten, diese Denkmäler menschlicher Eitelkeit, bleiben unbekannt. Der Name des Fürsten, der den großen Kanal zwischen den Meeren eröffnet, wird von Jahrhundert zu Jahrhundert gepriesen werden bis in alle Ewigkeit.«
Ägypten, ein Land, das seit Napoleons ägyptischem Abenteuer die Weltmächte nur am Rande interessierte, geriet auf einmal in den Strudel europäischer Interessenpolitik. Abenteurer, Spione, Techniker, Diplomaten und Leute, die hofften, das große Glück zu machen, überschwemmten das Land, in dem, wie es schien, die Neuzeit ausbrach. Und die Archäologen und Forscher, die an den Brennpunkten der frühen Kultur meist mittellos und verbissen arbeiteten, sie wurden nun belächelt - als gingen sie in die falsche Richtung.
Zwei Dinge hinderten Heinrich Brugsch, eigene Grabungen durchzuführen. Zum einen war es das Geld. Gräber, die nahe an der Oberfläche lagen, waren von Grabräubern und den
Bewohnern von el-Kurna längst gefunden worden. Und Gräber, die vermutlich tief im Boden lagen, zugeschüttet, verweht oder in den Fels getrieben, erforderten einen zu hohen Arbeitsaufwand, den Brugsch einfach nicht zu bezahlen in der Lage war. Ohne Konzession hätte der Preuße außerdem sowohl auch das Mißtrauen des Provinzgouverneurs, des Mu-dirs von Kena, erregt. Zum anderen aber führte Auad seinen Herrn zu so vielen geöffneten Gräbern, die allesamt einer historischen Untersuchung bedurften, daß an neuerliche Grabungen zumindest vorläufig überhaupt nicht zu denken war. Auf steinigem Pfad wanderten Brugsch und Auad das Tal von el-Kurna in westlicher Richtung entlang, vorbei an Felseninschriften und Weiheinschriften, die an die Götter Thebens und des Totenreiches gerichtet waren, zum Biban el-Harim, dem Tal der Königinnen.
»Wie viel Gräber hast du im Biban el-Harim aufgezeichnet, Effendi?« fragte Auad, während sie sich bei brennende Nachmittagshitze durch das öde, aller Vegetation beraubte Tal quälten.
»Nach meinen Unterlagen sind es neunzehn«, sagte Brugsch, »neunzehn mehr oder minder zerstörte Gräber von Königinnen und Prinzessinnen der 18. bis 20. Dynastie.« Stolz meinte Auad: »Dann werden wir heute das zwanzigste aufsuchen.«
Es lag am westlichen Ende des Tales. »Hier«, sagte Auad und deutete auf einen Trichter im Geröll. Mit bloßen Händen räumte er den Schutt beiseite, der jedoch immer wieder nachfiel; endlich klaffte ein Loch im Boden, gerade so groß, daß ein Mann sich hindurchzwängen konnte. Brugsch zündete eine Kerze an, nahm das Licht in die linke, sein Kopienbuch in die rechte Hand, mit dem Bleistift im Mund kroch er auf allen vieren in das Innere.
Nach ein paar Metern öffnete sich der Kriechgang zu einem hohen Korridor, der es erlaubte, aufrecht zu gehen. Die Luft war stickig, von süßlichem Mumienduft erfüllt, den der Forscher von anderen Grüften her kannte. Meterlange Spinnweben hingen von der Decke, sie schienen schwer und undurchdringbar. Aber wenn Brugsch seine Kerze darunterhielt, prasselten sie für Sekunden wie ein Feuerwerk und lösten sich in nichts auf. Die kurzen Augenblicke der Helligkeit benutzte der Forscher, um sich zu orientieren. Fledermäuse flatterten, vom Licht geblendet, auf, und die Kerze drohte jeden Augenblick durch ihren Flügelschlag zu verlöschen. Es war das bisher besterhaltene Grab. Bunte Reliefs und Schriften bedeckten den langen, in den Kalkfelsen gegrabenen Korridor. Schleifspuren im Staub verrieten, daß sie nicht die ersten Eindringlinge waren: Die vermauerte Tür am Ende des Ganges war aufgebrochen. Heinrich Brugsch gab Auad die Kerze in die Hand, damit er sie hochhielt. Im Kerzenschein erkannte Brugsch am Eingang die Hieroglyphe der Mat, der Wahrheit, an der gegenüberliegenden Wand stand eine Königin vor Ptah, dem Schöpfergott, vor Amset und Isis. Darüber eine Inschrift. Stockend, immer wieder von neuem beginnend, las Brugsch das 3000 Jahre alte Totengebet für eine Königin: »Möge Amun-Ra die Königstochter des Totengottes Osiris, die Schwester eines Königs, die Mutter eines Königs, die große Königin und Herrin beider Länder, Ti-ti, die gestorben ist, . mit seiner Liebe beschenken . . .« Mit geschickten Strichen kritzelte der Forscher die Hie -roglyphen in sein Kopienbuch. Darin waren bereits Inschriften aus 13 anderen Gräbern aufgezeichnet'. Sechs der untersuchten Gräber trugen keine Inschriften, sie waren möglicherweise abgesplittert oder zerstört. Zwei waren unvollendet und hatten wohl nie als Begräbnisstätte gedient. Im Grab Nr. 2 fand Brugsch einen zerschlagenen Sarkophag der »großen königlichen Mutter und Herrin beider Länder Isis« - wie sich später herausstellte, gehörte er der Mutter Ram-ses' VI. In Grab Nr. 4 hatte man laut Inschriften den fünften Sohn Ramses' III. beerdigt. Die Gräber 7,11 und 13 dienten verschiedenen Prinzessinnen als letzte Ruhestätte. Brugsch identifizierte das Grab der Prinzessin Bentanta, einer Tochter des großen Ramses, die dieser, weil sie so schön war, kaum 16jährig zur Frau genommen hatte. Rätselhaft blieb für den Forscher das Grab der Königin Tentopet. Alle Hieroglyphen zwischen dem Titel »Königin« und ihrem Namen waren regelmäßig ausgemeißelt, in der Seitenkammer fehlten sogar der Name und die Bezeichnung Königin und in der untersten Kammer des Grabes war auch der Name Tentopet übertüncht und ihr Königstitel verändert. »Wer war die Arme«, hatte Brugsch in sein Kopienbuch notiert, »deren Andenken in dieser Weise und so absichtlich verlöscht werden sollte, und was hatte sie begangen, um diesen Schimpf zu verdienen?«