»Aber daß er deshalb sich selbst darstellte und nicht seinen Vater . . .«
»Das ist in der Tat einmalig.« Die Männer arbeiteten sich in den dahinterliegenden Raum vor. Staunend wie Kinder betrachteten sie mit nach oben gerichteten Köpfen die 24 Säulen des 50 Meter breiten Saales, Papyrusbündel mit geschlossenen Kapitellen. »Sehen Sie nur, auch hier überall Ramses, Ramses, Ramses«, entfuhr es dem Deutschen. Der Vorarbeiter, der sie führte, lachte und bedeutete, ihm zu folgen, als habe er etwas noch viel Aufregenderes vorzuzeigen.
Und in der Tat: Dahinter tat sich ein zweiter Säulensaal mit 36 Papyrusbündelsäulen auf. Doch diesmal prangte Sethos an allen Säulen. An der Wand zur Rechten erkannte man Sethos vor dem Totengott Osiris und dem Schutzgott des Pharao Horus. »Noch niemals in meinem Leben«, sagte Mariette beinahe andächtig, »habe ich so schöne Reliefs gesehen.«
Vorbei an sieben kleinen, fensterlosen Totenkapellen drückten sich beide durch einen finsteren Korridor. Im schwankenden Schein der Karbidlampe des Vorarbeiters erkannte Brugsch verschiedene Namensringe an der Wand. Er nahm dem Arbeiter die Lampe aus der Hand und ließ den Lichtschein auf und ab tanzen. Jetzt bemerkte es auch Ma-riette: Ein Königsring reihte sich an den anderen: Ahmose, Thutmosis, Amenophis, Sethos . . . Brugsch ging mit dem Licht ans vordere Ende, hielt inne, las, zögerte einen Augenblick und sagte zu Mariette gewandt: »Menes!« - »Menes«, antwortete der und nickte: Menes, der erste nachweisbare Pharao. Vor den beiden Forschern tat sich eine unschätzbare Botschaft auf: aneinandergereiht die Namen von 76 Pharaonen von Menes bis Sethos I.
Zwei ähnliche Chroniken waren bereits in Sakkara und Karnak entdeckt worden. Doch nun mit dem dritten Vergleichsstück wurde es überhaupt erst möglich, die präzise Reihenfolge der Pharaonenherrscher aufzuzeichnen. Fehlstellen oder unklare Namensschreibungen konnten jetzt durch den Vergleich geklärt und in die Chronik des alten Ägypten eingefügt werden. Was Brugsch und Mariette freilich nicht ahnen konnten: Der Königskatalog von Abydos enthielt eine Fälschung, genauer gesagt, die Chronisten hatten vier Könige einfach ausgelassen. Und allein diese Tatsache brachte Jahrzehnte später noch einmal das ganze Geschichtsbild ins Wanken.
Doch davon hatten die beiden Forscher noch keine Ahnung. Wochenlang schwelgten sie in aufregenden neuen Entdeckungen. Mariette trieb die Arbeiter zu immer größeren Leistungen an, steckte neue Areale ab. Brugsch kopierte Inschriften, übersetzte und entdeckte neue Quellen für sein Hieroglyphen-Lexikon. Eine Vielzahl geschichtlicher, geographischer, astronomischer und mythologischer Aufzeichnungen brachte neue Erkenntnisse. Abends auf dem Schiff, das ihnen komfortable Unterkunft bot, führten beide Forscher ein gemeinsames Tagebuch in französischer Sprache. Sie hielten gemeinsame Erlebnisse fest, ihre Sorgen und Ängste, Beobachtungen und Erfolge. Dabei steigerten sie sich in einen schieren Ausgräberrausch, drangen immer tiefer in eine längst vergangene Welt ein und vergaßen darüber die Zeit, in der sie selbst lebten. Was scherte sie, daß sich in Indien ein britischer Vizekönig niederließ, Österreich die Lombardei an Italien verlor und im Kaukasus und in Amerika erste Erdölbohrungen stattfanden, wenn es darum ging, ein Gespräch des Pharaos Sethos mit seinem Vatergott Horus in die Gegenwart zurückzuholen!
Hinter dem Sethos-Tempel, acht Meter unter der Erde, stießen die Forscher auf einen Tempel mit zahllosen Unterwelt-Texten. Um dorthin zu gelangen, mußten die Priester einst einen 110 Meter langen Gang schräg nach unten gehen. Von einem Vorraum, dessen Wände vom Boden bis zur Decke mit Anleitungen beschrieben waren, wie man in das Reich der Toten gelangte, führte der Weg in einen großen Saal mit zehn mächtigen Pfeilern aus rotem Granit. Diesen Saal umgab ein Wassergraben, der in der Antike über einen Kanal vom Nil her mit Wasser gespeist wurde. Mariette erkannte sofort den Symbolgehalt dieser Architektur: Der Urhügel, auf dem der Kosmos geschaffen wurde, wird vom Urmeer umflossen. Deutliche Beweise für die Richtigkeit seiner Annahme fand der Franzose in dem darunterliegenden Querraum. Über einem Grabmal wölbte sich in Wort und Bild die gesamte Schöpfungsgeschichte der alten Ägypter: Der Luftgott Schu hob die Himmelsgöttin Nut empor. Mathematische und kosmographische Beschreibungen, Sternentafeln und Anweisungen unter ihrem Leib beschrieben das Weltbild jener Zeit. »Unser beider Leben«, meinte Brugsch eines Tages resignierend, »wird nicht ausreichen, dieses Abydos je ganz zu erforschen.« Mariette pflichtete ihm bei: »Außerdem erwarten uns eine große Zahl anderer Ausgrabungen. Wir wollen noch bis zur Insel Philae. Esna, Edfu, Kom Ombo, die Insel Elephantine liegen noch auf unserer Strecke - und überall wird bereits gegraben.« »Vergessen Sie das Tal nicht, mon cher!« mahnte Brugsch. »Wie könnte ich das Tal vergessen!« lachte Mariette. »Wenn wir morgen ablegen, sind wir übermorgen in aller Frühe in Luxor.«
Heinrich Brugsch war einverstanden. Auf dem Weg von der Ausgrabungsstätte zum Landeplatz, den beide auf Maultieren zurücklegten, kam ihnen Floris entgegengelaufen. »Messieurs, Messieurs! Große Erfindung von Floris. Kommen Sie, sehen Sie!« Sprühend vor Temperament und gestikulierend vor Aufregung versuchte der Korse seinen Herren klarzumachen, daß er nun endlich eine Maschine erfunden habe, die unabhängig von jeder Dampfkraft Arbeit leistete. Mariette und Brugsch verstanden nur »Perpetuum mobile«. Man wollte sehen.
Vor der »Samanoud« dümpelte ein Kahn mit kranartigem Aufbau. Wasserräder zu beiden Seiten verliehen dem Fahrzeug eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Dampfer, ein Schlot fehlte allerdings. Den gedachte Floris durch schlichte Überlistung der Schwerkraft zu ersetzen. Das Herz des Ganzen bildeten zwei Steinblöcke, jeder beinahe einen halben Zentner schwer, die, an senkrechten Pendelbalken befestigt, die Schaufelräder des merkwürdigen Schiffchens in Bewegung versetzen sollten.
Mit einem Satz sprang Floris auf sein Boot, heulte mit vor den Mund gehaltenen Händen wie die Sirene eines Dampfschiffs und versetzte die schweren Pendel unter lauten An-feuerungsrufen in gegeneinanderlaufende Schwingungen. Große hölzerne Zahnräder übertrugen die Bewegungen auf die Schaufeln wie bei einem Uhrwerk. Die Schaufelräder drehten sich - sie drehten sich tatsächlich, aber viel zu langsam, um das Fahrzeug in Bewegung zu setzen. Wütend über die Trägheit der Materie versetzte Floris die schweren Holzpendel in immer heftigere Schwingungen, vergaß in seinem Wahn ganz die Gefährlichkeit der unerprobten Technik, und plötzlich krachte einer der schweren Steinarme gegen Floris' Brust. Der besessene Erfinder flog wie von einer wuchtigen Faust getroffen in hohem Bogen in den Nil. Starr vor Schreck blickte Brugsch auf den wie leblos im Wasser treibenden Körper, Mariette überlegte nicht lange, sprang in voller Kleidung hinterher und zog den bewußtlosen Floris an Land. Ein paar Rippenbrüche und dunkelblaue Blutergüsse waren das einzige Ergebnis des Experiments. Während die beiden Forscher den bedauernswerten Floris mit pumpenden Armbewegungen und sehr viel Raki-Schnaps ins Leben zurückholten, machte sich das Teufelswerk des Erfinders selbständig, glitt den ewigen Gesetzen der Strömung gehorchend ein kurzes Stück nilabwärts und versank, nach einem letzten Nicken des kranartigen Aufbaus, gerade in dem Augenblick in den Fluten, als Floris die Augen aufschlug.