Statt Bedauern erntete der dem Tode entronnene Techniker aber nur Vorwürfe. »Du verrückter Hund!« schrie ihn Mariette an, »glaubst schlauer zu sein als alle anderen vor dir, bildest dir ein, etwas zustande zu bringen, das noch nie -mand geschafft hat, noch niemand, hörst du!« Brugsch legte beruhigend eine Hand auf Mariettes Arm und sagte leise: »Tun wir denn etwas anderes?«
Der Bahnhof in Alexandria sah aus wie ein Märchenschloß mit Erkern und Türmchen, rot-blauen Glasscheiben und gefliesten Wänden. Livrierte Bedienstete in gold- und emailstrotzenden Uniformen verkauften Billetts mit der Feierlichkeit eines Standesbeamten, Gepäckmeister kommandierten Lakaien an Truhen, Kisten und Koffer, und das vornehm gekleidete englische Fahrpersonal genoß das Ansehen gottbegnadeter Pioniere, Frack und Zylinder waren Vorschrift. Doch an diesem Tag lag über dem Eisenbahn-Schloß ein zusätzlicher Hauch von Würde und Glanz. Teppiche waren von der Promenade bis zum Bahnsteig ausgerollt. Ein Sonderzug stand unter Dampf und erwartete königliche Gäste.
Said Pascha hatte seinen gesamten Familienclan zu einem großen Fest nach Alexandria, seinem Lieblingsaufenthalt, geladen und verabschiedete sie nun auf dem Bahnsteig vor der Heimreise nach Kairo.
Die Sonderwagen des Khediven versetzte selbst die luxusverwöhnte Verwandtschaft Said Paschas in Entzücken, schließlich galt es noch immer als einmaliges Erlebnis, von erhitztem Wasserdampf eine Tagesreise durch das Nildelta gezogen zu werden. Achmed Rifat Pascha, der Neffe des Vizekönigs, klopfte mißtrauisch an Kessel und Leitungen des fauchenden Dampfrosses, schüttelte verständnislos lächelnd den Kopf und schwang, unterstützt von zwei Lakaien, seinen voluminösen Körper auf die Plattform des Salonwagens. Im Innern hatte bereits die gesamte männliche Verwandtschaft Platz genommen, bis auf Achmeds Bruder Ismail, den angeblich eine Krankheit ans Bett fesselte. Wie üblich saßen die Damen getrennt im zweiten Waggon. Der zurückbleibende Khedive winkte huldvoll zum Abschied, und ein vornehmer Bahnhofsvorsteher gab das Zeichen zur Abfahrt. Zischen, Fauchen, Stoßen, das Lokomobil setzte sich langsam in Bewegung und entschwand nach wenigen Augenblicken hinter den Palmen im Osten. Bei der Ortschaft Kafr el Zayat, etwa in der Mitte zwischen Alexandria und Kairo, kreuzte die Bahnlinie den westlichen Nilarm. In den ersten Jahren ihres Bestehens mußten dort die Passagiere aussteigen, um auf einer Fähre übergesetzt zu werden und die Fahrt mit einem anderen Zug fortzusetzen. Der Bau einer Eisenbahnbrücke wäre zwar möglich gewesen, hätte jedoch die Durchfahrt für Schiffe versperrt, die noch immer das wichtigste und billigste Transportmittel zwischen Alexandria und Kairo darstellten. Das umständliche Umsteigen verzögerte die Eisenbahnfahrt natürlich erheblich, bis Robert Stephenson, der kühne Erbauer der Eisenbahn, eine Drehbrücke konstruierte, von noch größerem technischen Aufwand als das Schienenungeheuer selbst: Auf einem Pfeiler inmitten des Nils drehte sich die Brücke parallel zum Flußlauf und gab so ganztätig die Durchfahrt für die Schiffe frei. Nur zweimal am Tag, wenn Zug und Gegenzug sich der Ortschaft Kafr el Zayat näherten, kündeten Sirenen die bevorstehende Drehung der Brücke an, Schiffe und Fel-lukas drehten bei, und das Dampfroß donnerte mit seinen hochrädrigen Waggons über die zitternde Eisenkonstruktion.
Die Pilger einer Kamelkarawane bemerkten das drohende Unheil als erste. Sie warteten am Flußufer auf die große Fähre, die sie und ihre Tiere übersetzen sollte. Pfeifend näherte sich die Eisenbahn - aber die Drehbrücke stand offen. Mißtrauisch gegenüber der unverständlichen Technik glaubten sie zunächst, das fauchende Ungeheuer würde bremsen. Aber das Lokomobil verlangsamte seine Fahrt keineswegs, obwohl zwei Kilometer notwendig waren, um das schnaubende Ungetüm zum Stehen zu bringen. Als die Eisenbahn nur noch 200 Meter von der offenstehenden Brücke trennten, rannten die Pilger wild schreiend und gestikulierend dem Zug entgegen. Der Lokführer, derlei Ovationen gewöhnt, winkte huldvoll zurück, der Heizer legte eine Schaufel Kohlen nach. Die Pilger warfen sich zu Boden, verneigten sich mit erhobenen Händen gen Mekka und riefen »Maschallah, maschallah! - was Gott alles geschehen läßt!« Die Dampfeisenbahn brauste geradewegs auf die geöffnete Brücke zu. Es schien, als bemerkte der Lokomotivführer das drohende Unheil im allerletzten Augenblick -doch zu spät. Quietschend, ächzend, krachend stürzte das tonnenschwere Lokomobil in den Fluß, den Kohlenanhänger und die beiden bunten Salonwagen hinter sich herziehend.
Der sonst so träge dahinfließende Nil verwandelte sich augenblicklich in ein tosendes, quirlendes, kochendes Gewässer. Für ein paar Sekunden schwammen die ineinanderver-keilten Waggons in dem schäumenden Wasser. Man hörte Schreie, sah Hände aus dem Wasser ragen, Schleier und Frauen in weiten Gewändern dahintreiben, dann versank der Eisenbahnzug wie von unsichtbarer Hand in die Tiefe gezogen.
Schnaubend und prustend hielt sich ein Mann über Wasser: Prinz Halim. Verzweifelt versuchte er Achmed, den designierten Thronfolger, zu fassen. Aber Achmed, dick, tolpatschig und ungeschickt, konnte nicht schwimmen und ertrank wie die übrigen Mitglieder der Familie. Es konnte nie geklärt werden, warum der Sonderzug dem Brückenwärter von Kafr el Zayat nicht gemeldet worden war, und schon bald verbreitete sich das Gerücht, Prinz Ismail, der als einziger nicht an dem Familientreffen teilgenommen hatte, habe die Hand im Spiel gehabt. Ismail, der Neffe des regierenden Vizekönigs, stand an zweiter Stelle der Thronfolge. Er wurde in Paris erzogen, war also ein Freund der Franzosen wie sein Onkel Said und förderte den europäischen Kultureinfluß in Ägypten. Aber waren das Indizien dafür, daß Ismail seine gesamte Verwandtschaft auf einen Schlag auslöschen ließ?
Anthony C. Harris, ein würdiger Siebziger mit weißem Schnauzbart, sah genauso aus, wie man sich einen Eng-lishman vorstellt: vornehm, zurückhaltend und stets gut gekleidet. Harris ging nie ohne Hut, unter der gnadenlosen Sonne Oberägyptens trug er einen weißen Tropenhelm. Das einzige, was eigentlich nicht zu ihm paßte, war seine ständige Begleiterin, jene unförmige Negerin namens Selima, die er an Kindesstatt angenommen und ganz vortrefflich erzogen hatte. Sie war geistvoll, sogar witzig. Trotzdem bereitete es ihrem Vater unüberwindliche Schwierigkeiten, sie an den Mann zu bringen. Da half keine Mitgift und kein gutes Zureden - schließlich gab er es auf. Selima war keineswegs traurig, sie meinte schlicht: »Welcher Europäer wird mich mit diesem Gesicht schon aus reiner Liebe heiraten?«
Immer wenn Harris und seine Tochter in Luxor auftauchten, wurde das »Französische Haus«, wo der reiche Kaufmann aus Alexandria abzusteigen pflegte, von finsteren Gestalten belagert. Möglichst unauffällig schlichen sie um das Schloß, versteckten sich hinter Säulen, um nicht gesehen zu werden. Aber nicht etwa vor Harris fürchteten sie sich, sondern untereinander mieden sie jeden Kontakt. Es waren Grabräuber oder deren Abgesandte, und jeder hatte dem reichen Kaufmann aus Alexandria ein günstiges Angebot zu machen.
In ihren Kreisen galt es als offenes Geheimnis, daß Harris die höchsten Preise zahlte, wenn die Ware überdurchschnittlich gut war. Harris' Haus in der Nähe der Festungswerke von Alexandria glich einem einzigartigen Museum. Natürlich waren die angebotenen Objekte allesamt illegal erworben, konnten also nicht einfach öffentlich zum Kauf angeboten werden. Kompliziert wurde die Angelegenheit jedoch dadurch, daß sich die verschiedenen Grabräuber-Banden gegenseitig belauerten. Wer was wann auf den Markt brachte, konnte die Konkurrenz auf die Spur eines soeben entdeckten Grabes bringen, dessen Inhalt eine ganze Bande oft jahrelang ernährte.
»Sieh nur«, sagte Harris zu Selima, während der Wind in das Segel des Fährbootes fuhr, »in den Felswänden von Der el-Bahari kommt ein ganzer Tempel zum Vorschein!« »Ja, Sir«, sagte die wohlerzogene Tochter und blinzelte gegen die schrägstehende Sonne. »Ein Teufelskerl, dieser Mariette, ein wahrer Teufelskerl. Leider verheiratet. Er wird nicht eher ruhen, bis er das ganze Nildelta umgepflügt hat.«