Jetzt erkannte auch Harris den Stapel Papyrusrollen neben dem Stein, vielleicht zwanzig Stück. Harris kniete sich in den Staub, rollte jeden einzelnen Papyrus auf und hielt ihn in das Licht der Laterne. Bis auf zwei, die Hieroglyphen trugen und auf den ägyptischen Totenkult Bezug nahmen, waren alle in hieratischer, also der volkstümlichen Schrift geschrieben. Die größte Rolle erregte das meiste Interesse des Sammlers, weil es der besterhaltene und schönste Papyrus war, den Harris je gesehen hatte.
»Vierzig Meter«, sagte der Araber beinahe teilnahmslos, »zweihundert Pfund.«
Harris trat der Schweiß auf die Stirne, er schob den Tropenhelm in den Nacken. Schon die ersten Zeilen verrieten einen hochbrisanten Inhalt: Ramses III. berichtete von seinen Großtaten in Theben, Heliopolis und Memphis, ein unschätzbares historisches Dokument. 250 Pfund betrug die gesamte Barschaft, die Harris in einem Lederbeutel um den Hals trug. Die Teilnahmslosigkeit, mit der der Unbekannte seine Forderung geltend gemacht hatte, brachte den Engländer zu der Überzeugung, daß Feilschen zwecklos sei. »Und was kosten die übrigen Rollen?« fragte er beinahe zaghaft. »Zehn Pfund, jede.«
Harris griff in sein Wams, fingerte die 250 Pfund hervor und sagte: »Ich nehme den großen und fünf kleine. Den Rest hole ich morgen ab.«
»Morgen bin ich nicht mehr da, und die Schriftrollen sind auch verschwunden. Wollen Sie mir eine Falle stellen?« »O nein«, beteuerte Harris, »aber ich habe nicht mehr als 250 Pfund bei mir!«
Da bückte sich der Araber, schob dem Engländer die große und fünf weitere Rollen hin, hielt die Hand auf und sagte fordernd: »Na und?« Nachdem Harris ihm das Geld gegeben hatte, sammelte der Unbekannte die übrigen Schriftrollen ein und verschwand wortlos durch den Höhleneingang, die Laterne ließ er zurück. Der Engländer folgte ihm mit dem Licht, aber noch ehe er den Kraterrand erklommen hatte, war der Araber spurlos in der Dunkelheit untergetaucht.
Anthony Harris nahm denselben Weg, den er gekommen war, um zu vermeiden, daß ihm ein Fellache aus el-Kurna begegnete. Dazu mußte er den schmalen Pfad am Fuße des Felsenkessels entlanggehen - ein kleiner tanzender Lichtpunkt in einem dunklen unendlichen Meer von Steinen. Von der Höhe des Felsenmassivs löste sich eine Steinlawine, schlug krachend im Talkessel auf, ein seit Jahrtausenden immer wieder zu beobachtender Vorgang, wenn sich der von der Sonne des Tages erhitzte Fels in der Nacht abkühlte. Der Hat-schepsut-Tempel wurde so ohne fremde Einwirkung im Laufe von über 3000 Jahren verschüttet. Harris blieb stehen. Seine Augen bohrten sich in die Nacht. Vor ihm polterten die Steine in die Tiefe, klatschten in den Sand, blieben liegen, Geröll rauschte hinterher, dann Stille. Plötzlich, nahezu lautlos, sauste ein Felsbrocken, ei-nen halben Meter im Durchmesser, an seinem Kopf vorbei. Harris begann zu laufen, die Laterne flackerte bedrohlich, aber es schien, als liefe er geradewegs in eine zweite Steinlawine hinein. Also machte er kehrt, schlich vorsichtig zurück - aber das Inferno begann auch dort: Gesteinsbrocken sprangen mit unheimlicher Geschwindigkeit in die Tiefe, Schuttmassen folgten hinterher.
Als es für einen Augenblick still war, glaubte Anthony Harris, halblaute Kommandos von der Kuppe des Felsenkessels zu hören. Er wollte rufen, sich bemerkbar machen, aber da prasselte schon wieder Geröll von oben, geradewegs auf ihn zu. Harris hastete nach vorn, wich einem Sandbach aus, sprang zurück, ein Stein prallte gegen seinen Helm. Da waren sie wieder, die Kommandos, kein Zweifel, dieses Inferno war kein Zufall, dies war ein Anschlag auf sein Leben. Harris war zwischen die Fronten rivalisierender Grabräuber geraten. Sein Herz schlug bis zum Hals, das Blut pochte in den Schläfen. Instinktiv setzte er die Laterne auf den Boden, zog den Kopf ein und rannte, die Papyrusrollen mit beiden Armen fest umklammernd, irgendwohin, nur heraus aus dieser Falle.
Dabei stolperte er über einen Stein, stürzte, die Schriftrollen purzelten irgendwohin in die Dunkelheit, auf allen vieren kriechend tastete Harris nach seinen Kostbarkeiten, sammelte alle sechs Papyri wieder ein, erhob sich und hastete weiter, bis er sich außerhalb der Gefahrenzone glaubte. Da hielt der Engländer inne und drehte sich um: Stille. Plötzlich wie es gekommen war, hatte das Stein- und Geröllgewitter aufgehört. Friedlich flackerte in einiger Entfernung die Laterne. Da fiel ein Schuß, und die Laterne verlosch. Gespenstisch schallte das vielfache Echo von den Felswänden.
»Wie sehen Sie denn aus!« rief Mariette, als Anthony Harris bleich und verdreckt über die Brücke auf das Schiff torkelte. »Sind Sie verprügelt worden, Monsieur?«
Harris blieb schwankend vor dem an Deck aufgestellten Tisch stehen, um den herum Selima und die beiden Ausgräber saßen. »Nein, nein, alles in Ordnung«, sagte der Engländer und trat ans Licht. »Kommen Sie, essen Sie etwas«, sagte Mariette, »was möchten Sie trinken?« Als hätte er die Frage nicht gehört, schob Harris wortlos an der einen Seite des Tisches Schüsseln und Teller beiseite. Dann ließ er die Schriftrollen aus seinem linken Arm auf die Tischplatte kullern. Mariette und Brugsch kamen näher. »Ich habe schon vieles erlebt«, begann Harris, während er jeden einzelnen Papyrus aufrollte, »ich habe mich mit Grabräubern in dunklen Gassen und Spelunken getroffen, ich habe in einer Höhle bei Siut der Mumie des griechischen Grammatikers Tryphon einen Papyrus aus der Hand gewunden, Angst hatte ich dabei nie. Aber ich muß gestehen, heute habe ich um mein Leben gefürchtet.« Und dann erzählte er von dem mysteriösen Anschlag im Felsenkessel von Der el-Bahari.
»Ist der aus einem Stück?« fragte Heinrich Brugsch und deutete auf die dicke Schriftrolle. Harris nickte: »Jedenfalls wurde es mir versichert, angeblich ist er vierzig Meter lang.« Mariette pfiff durch die Zähne. Brugsch sagte: »Meine Herren, die Länge einer Schriftrolle ist nicht so wichtig wie der Inhalt!«
Harris faßte die Hand seiner Tochter Selima und legte sie auf das eine Ende der Papyrusrolle, dann rollte er das Schriftstück auf. Gebannt starrten alle auf die hieratischen Schriftzeichen. Jeder versuchte irgendeine Zeile zu entschlüsseln, murmelnd bewegten sich die Lippen. Brugsch, der die Schrift am besten beherrschte, war den beiden anderen weit voraus. Natürlich konnten die Forscher nicht darangehen, den Papyrus von vorn bis hinten zu lesen. Eine solche Übersetzung nahm oft viele Jahre in Anspruch. Aber Anhaltspunkte und Details ließen sich erkennen.
»Was meinen Sie, Mister Brugsch?« fragte Harris. Brugsch reagierte nicht, rollte den Papyrus immer weiter auf und glitt mit den Fingern seiner Rechten über die Zeilen, Mariette rollte den Anfang wieder auf. Die Diener erneuerten die Windlichter; die Taue, mit denen die »Samanoud« festgemacht war, knarzten; ein Krokodil glitt platschend ins Wasser; es war lange nach Mitternacht, aber keiner in der Runde wollte an Schlaf denken. Brugsch murmelte, beeindruckt von dem Gesehenen, in Abständen immer wieder: »Man kann Ihnen nur gratulieren, Mister Harris. Wirklich, man kann Ihnen nur gratulieren.«
Der große Papyrus, das wurde im Lauf dieser Nacht deutlich, war ein Rechenschaftsberic ht, den der dritte Ramses im 32. Jahr seiner Regierung, also kurz vor seinem Tod, diktiert hatte. Ramses nannte voll Stolz die Leistungen für die theba-nischen Götter, deren Tempelpriester 400000 Stück Vieh, 100000 Bedienstete und alle Goldminen Nubiens in Besitz hatten.
Brugsch machte sich auf seinem Zettel Notizen. Plötzlich warf er den Bleistift auf den Tisch. »Hören Sie sich das an«, rief er erregt: »Das Land Ägypten wurde umgestürzt von außen her, es gab kein Oberhaupt viele Jahre hindurch. Jeder erschlug seinen Nächsten. Und es kamen andere Zeiten, danach in leeren Jahren, da wurde ein Syrer König, er machte das ganze Land tributpflichtig und plünderte zusammen mit seinen Genossen allen Besitz. Sie machten die Götter gleich wie Menschen, und in den Tempeln wurden keine Opfer mehr dargebracht. ..«
Brugsch und Mariette sahen sich an, staunten. »Ich glaube langsam, es hat viel mehr Pharaonen gegeben als alle Chroniken aufführen«, sagte Mariette und schüttelte den Kopf: »Mir scheint, ein jeder hat die, die ihm nicht genehm waren, einfach weggelassen.«