Über den Papyrus gebeugt, stützte Brugsch die Arme auf die Oberschenkel. »Das scheint mir auch so. Unsere Arbeit wird dadurch nicht gerade einfacher. Wenn wir dem dritten Ramses glauben wollen, dann heißen seine rechtmäßigen Vorgänger Merenptah, Sethos II. und Sethnacht. Schön und gut. Nur, zum Teufel, kann mir dann ein Mensch erklären, warum Amenmesse Siptah und seine Frau Tausret, die nachweislich vor Ramses III. lebten, Pharaonengräber im Tal der Könige erhielten?«
»Was sagt eigentlich der ägyptische Historiker Mane-thos?« erkundigte sich Harris.
Brugsch lächelte verschmitzt: »Der nennt als Nachfolger Merenptahs einen Amenmesse und einen Thuoris.« »Thuoris«, wiederholte Mariette nachdenklich und kritzelte Namen auf ein Papier. »Könnte er nicht Tausret meinen und ihren Mann Siptah einfach vergessen haben? Dann würde die Reihenfolge lauten: Merenptah, Amenmesse, Sethos II., Siptah, Tausret, Sethnacht, Ramses III.« »Ob dieses Puzzlespiel wohl jemals gelöst werden könne«, fragte zweifelnd Anthony Harris. »Ich bin ganz sicher, Mister Harris«, sagte Heinrich Brugsch. »Wir stehen doch erst am Anfang unserer Wissenschaft!«
»Phantasia« - welch ein Zauberwort! Dieses vergnügungssüchtige 19. Jahrhundert ließ keine Gelegenheit aus, die neue Zeit in alter Pracht zu verherrlichen. So ein Fest, für das sich immer ein Anlaß fand, nannte man im Orient Phantasia. Die Phantasia in Kairo, zu der Mariette und Brugsch geladen waren, fand zur Einweihung der neugegründeten Festung des Vizekönigs statt, die seinen Namen trug: Saidia. Gleichzeitig feierte Said Pascha seinen 37. Geburtstag. Für Mariette und Brugsch war es ein Abschiedsfest; denn der Deutsche trug bereits eine Schiffspassage in der Tasche. Nach einem letzten Brief seiner jungen Frau Pauline hatte Brugsch sich Hals über Kopf entschlossen, sein Ausgräberdasein aufzugeben und - wie er sagte - in seinen vier Wän-den einzig und allein der Wissenschaft und seiner Familie zu leben. Er hatte das Gold des Paschas kaum angegriffen und träumte davon, zu Hause in Berlin ein eigenes Haus zu kaufen.
Die Flotte des Vizekönigs, bestehend aus 13 Dampfschiffen und 19 Schleppkähnen, beladen mit Kanonen, Pferden, Kamelen, Maultieren und Mannschaften, fuhr festlich beflaggt und glanzvoll herausgeputzt von Kairo nilabwärts, um an der Stelle zu ankern, wo der Nil sich in die beiden Hauptarme des Deltas gabelt. Auf dieser Landzunge hatte der Pascha die aus fünf Bastionen bestehende Festung errichtet. Für die Gäste der Phantasia hatte man eigene Schiffe eingesetzt. Die beiden Freunde standen an der Reling und ließen das festlich geschmückte Kairo und seine jubelnden, winkenden Bewohner am Flußufer an sich vorüberziehen. Beide litten unter dem Augenblick. Fünf Jahre hatten sie mehr oder weniger zusammengearbeitet, zu Beginn mühsam und armselig, zum Schluß aufwendig und unter idealen Voraussetzungen - in jedem Fall erfolgreich. Und - sie hatten sich schätzengelernt, jeder den anderen, der doch so ganz anders war.
Wollen Sie sich das alles nicht noch einmal überlegen, mon ami, hätte Mariette am liebsten gefragt. Doch es war unsinnig, einem Mann wie Brugsch diese Frage zu stellen, also ließ er es, redete Belangloses: »Böse Zungen behaupten, die Regierung beabsichtige, ihren Beamten die Besoldung für sechs Monate vorzuenthalten - so teuer ist die Phantasia.« Brugsch mühte sich ein Lächeln ab: »Ich hoffe nur, Ihr Etat leidet nicht darunter. Sie dürfen nicht auf halbem Weg haltmachen, jetzt, wo der Erfolg sich abzeichnet.« »Nein, gewiß nicht«, sagte Mariette, »Said Pascha ist noch mein Freund.«
Es war noch früh am Tag, aber an der Landzunge herrschte bereits ein dichtes Menschengewühl. Zelte waren aufgebaut zur Unterbringung der Soldaten und Offiziere.
Dazwischen Maultiere und Pferde zur Bespannung der Geschütze. Aufgeregt liefen Paschas und Beys durcheinander, brüllten abgehackte Kommandos, und die Kawassen des Vizekönigs ließen ihre Stöcke tanzen, um den Befehlen mehr Nachdruck zu verleihen.
An den Festungsmauern lehnten zerbrechliche Holzgerüste, wie Weihnachtsbäume mit Tausenden Glaslampen bestückt zur abendlichen Festbeleuchtung. Bunte Lampions baumelten in den Toren der Bastionen, von irgendwoher schallte orientalische Musik und verlie h dem Ganzen einen märchenhaften Zauber. Der herbe Geruch von Esel- und Pferdemist vermischte sich mit dem süßlichen Qualm, der von den tragbaren Kupferöfen der Nüsseröster aufstieg. »Ich werde diesen Zauber vermissen«, sagte Brugsch, als sie das Schiff verließen, »schließlich bin ich schon ein halber Orientale geworden.«
»Wenn Sie mich fragen -«, Mariette lächelte, »entweder man kommt einmal und nie wieder in dieses Land, oder man kommt nicht mehr los davon. Mon cher, ich nehme jede Wette an, daß Sie zurückkommen!« Der Preuße schüttelte den Kopf, seine Augen wurden feucht, da schwieg Mariette.
Die begehrtesten Kunsthandwerker des Landes hatten für den Vizekönig Said einen hölzernen Pavillon errichtet, bunt und glänzend wie ein orientalisches Märchenschloß. Französische Kunstreiter und maghrebinische Akrobaten präsentierten in einem offenen Zirkus ihre artistischen Darbietungen. Eine ganze Kompanie vizeköniglicher Köche bereitete in der riesigen Feldküche duftende Gerichte zu. In Hunderten glitzernder Kessel und Pfannen brodelten, bruzzelten und brieten exotische Speisen. 2i Kanonenschläge zerrissen die Luft. Die Unruhe der Menschen steigerte sich. Zwanzig bis zu den Zähnen bewaffnete, schwarzhäutige Eunuchen schirmten mit Teppichen einen Weg von der Anlegestelle zum Pavillon des Paschas ab; denn soeben machten die Dampfer mit dem vizeköniglichen Harem fest. Man reckte die Hälse, um über die Teppichwände irgend etwas von den Freuden des Khediven zu erspähen. Doch der erste, der dem Schiff entstieg, war der vieijäh-rige Sohn des Landesfürsten Tussun Pascha. Er trug die große Generalsuniform und drückte furchtsam die Hand seiner französischen Erzieherin. Dahinter, in gebührendem Abstand, der gesamte Harem, schwarz verhüllt. Die Schiffe legten ab, machten anderen Dampfern Platz; ihnen entstiegen die moslemischen Gelehrten und Priester, nach Rang und Namen geordnet, kenntlich durch vorangetragene Fahnen mit eingestickten Koranversen. Ihre Kleidung war einheitlich: Sie trugen einen seidenen, hellen Kaf-tan, auf dem Kopf hochaufgestülpt einen Turban, kostbare Kaschmirschals hingen über ihre Schultern. Die würdigen Schritte der Gelehrten begleiteten Trompeter der ägyptischen Kavallerie mit arabischen Melodien, wild attackiert von einer Infanteriekapelle, und schließlich brachten noch die Baschi-Bosuks ihre Pfeifen, Trommeln und Pauken zum Einsatz - ein nicht zu überbietender Lärm. Drei Bataillone Schützen und Infanterie, darunter ein Bataillon Schwarzer, eine Schwadron Ulanen mit blanken Helmen und gelb-rotem Federstutz, in denselben Farben die seidenen Fähnchen an ihren Lanzen, eine Schwadron Husaren mit Bärenfellmützen, eine Schwadron Kürassiere in gelben Kürassen mit silbernem Stern und gelbem Helm mit rotem Haarkamm, Pferde mit dunkelblau seidenem Zaumzeug und silbernen Beschlägen, verwegene Reiter in schwarzen Kaipaks mit roten Haarbüscheln, sie alle nahmen um den Pavillon des Khediven Aufstellung. Ein grellbuntes, verwirrendes Bild: Die roten Röcke, blauen Hosen und weißen Turbane der ersten Schwadron, die grünseidenen Kaftans, orangefarbenen Dolmans und meterhohen Hüte aus roter Seide des zweiten Haufens, dazwischen grünseidene Standarten mit Gold bestickt.
»Effendimiz tschak jascha!« schallte türkisch der Ruf der angetretenen Truppen, »unser Herr lebe hoch!« Die frommen Väter der moslemischen Weisheit traten vor, um dem Pascha im Pavillon ihre Glückwünsche im Namen Allahs zu überbringen. Darauf folgten die Generäle und Militärs und schließlich die übrigen geladenen Gäste, Paschas, Beys und Diplomaten.
»Ihr Freund macht aber nicht gerade den glücklichsten Eindruck«, flüsterte Brugsch seinem Begleiter Mariette zu, während sie in der langen Schlange eingereiht auf die Hand des Khediven warteten. Der saß zur huldvollen Entgegennahme der Honneurs auf einem gold-roten Thron in schneeweißer arabischer Kleidung, nur die Lackstiefel an seinen Füßen verrieten französischen Geschmack. Said reichte gelangweilt die Hand zum Kuß und machte bisweilen zu seinem Hofstaat eine ironische Bemerkung. »Ah, meine Herren Maulwürfe«, sagte der Vizekönig, als Mariette und Brugsch vor ihn hintraten.