Die zweite Kiste maß zweimal einen Meter, und für Auguste Mariette war klar, daß sie den Sarkophag der Königin Ahotep enthielt. Die beiden Forscher hoben den schweren Kasten auf den Tisch, auf dem sie für gewöhnlich ihre Mahlzeiten einzunehmen pflegten, und entfernten vorsichtig die Seitenteile. Zum Vorschein kam ein schwarz angestrichener Holzsarkophag, dessen Unebenheiten mit Sandmörtel verschmiert waren, etwas enttäuschend nach all den Kostbarkeiten, die aus dem ersten hervorgequollen waren. Der Sargdeckel hingegen versöhnte die Forscher, er stellte die Königin Ahotep dar, die ausgestreckt lag, als träume sie .
Sie trug die volle Perücke, wie im Mittleren Reich üblich, auf der Stirne die Uräusschlange, ihren Leib umfingen die Flügel der Göttin Isis.
»Da!« Mariette deutete auf eine Hieroglyphenzeile, die mitten über ihren Leib lief. »Eine königliche Opfergabe, o Ptah-Sokaris für den Schutzgeist der großen königlichen Gemahlin, die schon von der weißen Krone Besitz ergriffen hat, Ahotep, die ewig Lebende.«
Die Worte des Ausgräbers standen im Raum, als hätte eine Stimme aus der 18. Dynastie gesprochen. Ahotep, die ewig Lebende, war sie nicht eben im Begriff, wiedergeboren zu werden? Der Deckel lag lose auf dem Sargkasten. Man hatte die verbindenden Holzzapfen bei der gewaltsamen Öffnung einfach durchsägt. Vorsichtig hoben Mariette und sein Assistent den Deckel ab.
»Chef!« stammelte Deveria in höchster Erregung, »Chef!« Das Innere war leer.
Mariette lehnte die Deckplatte an die Wand und starrte zornentflammt in das leere Behältnis. »Sie haben die Mumie geraubt!« sagte Deveria, der als erster die Sprache wiederfand, »wir werden sie zurückholen.« Mariette schüttelte den Kopf: »Ich glaube nicht, daß die Mumie geraubt worden ist, ich glaube vielmehr, daß man sie verbrannt hat. Das ist hier so üblich; aber ich werde diesen Provinzgouverneur zur Rechenschaft ziehen.« Dennoch wertete der Franzose allein schon die Kaperung des Dampfschiffes als persönlichen Erfolg, er ließ Raki-Schnaps bringen und prostete seinem Assistenten und der Mannschaft unter schallendem Gelächter zu: »Na, wie haben wir das gemacht?«
In ausgelassener Stimmung schwenkten sie ihre Gläser und tanzten um den leeren Holzsarg herum, der noch immer auf dem Tisch stand. »Ein Kretin ist das, dieser Provinzgouverneur!« rief Mariette immer wieder. Der Alkohol tat seine Wirkung. »Ein Kretin!«
Spät in der Nacht - die Mannschaft hatte sich längst zurückgezogen - lehnten Mariette und Deveria mit schweren Köpfen an der Wand und betrachteten all die Schätze, die um sie herum aufgereiht lagen. Mariette redete stockend und kündigte an, er werde dem Pascha ein Halsband der Königin für dessen Lieblingsfrau zum Geschenk machen. Said selbst solle diesen prachtvollen Skarabäus als Glücksbringer erhalten. Der Schatz der Königin Ahotep werde zur Zierde des Museums gereichen. Zwar sei die wissenschaftliche Ausbeute gering, Wert und Kostbarkeit würden diesen Fund je -doch aus allen bisherigen Entdeckungen hervorheben ... Mariette unterbrach seine Rede abrupt, deutete erschreckt auf den Tisch, wischte sich mit einer schnellen Handbewegung über die Augen und stammelte: »Deveria, sieh nur!« Der Assistent musterte den Sarkophag mit zusammengekniffenen Augen, jetzt sah auch er es: Ganz langsam, ohne fremdes Zutun, begann der Sarkophag sich vor ihren Augen in Staub aufzulösen, bröckchenweise. »Siehst du es auch?« schrie Mariette seinen Assistenten an, »Deveria, siehst du es?«
»Ja, ich sehe es«, stotterte Deveria, »der Sarkophag zerfällt!«
»Wir müssen etwas tun!« rief Mariette und versuchte mit beiden Händen, den Vorgang aufzuhalten. Doch sobald er das Holz berührte, stürzten auch die letzten Reste in sich zusammen und hinterließen unscheinbare Häufchen graubraunen Pulvers.
Sie trug weite Pluderhosen und ein rotes ärmelloses Jäckchen, rauchte Zigarre und legte ein so herrisches Benehmen an den Tag, daß man sie durchaus für einen Mann hätte halten können. Doch beim näheren Hinsehen faszinierten ihr schönes, weiches Gesicht und dunkle Augen über kräftigen Brauen. Ihr Profil glich einer griechischen Göttin, und das lange, dunkle Haar trug sie mittelgescheitelt eng anliegend und am Hinterkopf hochgesteckt, wie es Mode war damals, eine Frau, der die Männer zu Füßen lagen. Lady Duff Gordon, so hieß die exzentrische Dame von vierzig Jahren, reiste in Begleitung ihrer Zofe Sally, die sie aus England mitgebracht, und ihres Dieners und Dolmetschers Omar, den sie in Kairo für einen Monatslohn von drei Pfund angeworben hatte. Mindestens zehn Koffer und Reisetruhen wurden in Luxor von Bord des Postdampfers getragen, während die Lady nach einer offiziellen Begrüßung Ausschau hielt. Aber da nahten auch schon Mustafa Aga, der britische Konsul von Luxor, und der Nazir, der Bürgermeister der Wüstenstadt.
»Willkommen in Oberägypten!« rief der Konsul von weitem, und der Nazir gab seiner Freude Ausdruck, der Lady für einige Monate Gastfreundschaft gewähren zu dürfen, das Maison de France befinde sich gleich hier gegenüber der Anlegestelle. Die beiden Männer bekamen große Augen, als sie die Lady näher in Augenschein nahmen: Sie waren mit einer schönen Frau konfrontiert, die Selbstbewußtsein ausstrahlte. Avisiert worden war ihnen eine lungenkranke Dame der englischen Gesellschaft, die im trockenen Wüstenklima der Stadt Luxor überwintern wolle, gekommen war eine attraktive Frau von immer noch jugendlichem Aussehen, die mit größter Selbstverständlichkeit auf der Straße eine Zigarre rauchte.
»Sie sind doch Lady Duff Gordon?« erkundigte sich der verunsicherte Konsularagent.
»Muß ich mich ausweisen?« fragte die Lady zurück, doch der Nazir beschwichtigte die Besucherin, es sei nur, weil sie eine kränkelnde Dame erwartet hätten, sie jedoch eher den Eindruck blühenden Lebens vermittle. »Kunststück«, meinte die Engländerin, »in diesem Klima muß man sich doch wohl fühlen; im Londoner Novembernebel huste ich mir jedes Jahr die Lunge aus dem Leib.« Und dabei streifte sie gekonnt mit dem rechten kleinen Finger die lange Asche ihrer Zigarre ab, die sie ebenfalls in der Rechten hielt.
»Es ist nicht sehr komfortabel«, entschuldigte sich Mustafa Aga und deutete auf das seltsame Schloß auf den Säulen des Luxor-Tempels, »aber wir werden Ihnen bei der Einrichtung behilflich sein, so gut es geht. Sie brauchen nur Ihre Wünsche zu äußern.«
Lady Gordon bedankte sich, bemerkte jedoch, sie könne sich durchaus einschränken, auf dem Dampfschiff von Kairo habe sie auch nur eine winzige Kabine zur Verfügung gehabt, zusammen mit Sally und Omar. Sally schlief neben ihr, Omar zu ihren Füßen. Der Aga und der Nazir wunderten sich.
Vom Maison de France, das wie ein Spukschloß auf dem Tempel hing, zeigte sich die Ankommende begeistert, erkundigte sich nach dem Alter des Gebäudes und wollte wissen, wer es erbaut habe.
Mustafa Aga gab bereitwillig Auskunft und berichtete nicht ohne Stolz, welch bedeutende Männer schon auf den Säulen von Luxor genächtigt hätten. Errichtet habe das Schloß der englische Konsul Henry Salt vor einem halben Jahrhundert. Ob sie von Salt schon gehört habe. Die Lady lachte: »Und ob ich von ihm gehört habe! Das British Museum ist voll von seinen Schätzen. Jedes Kind in England kennt den riesigen Memnon . .. « Der Nazir fiel der schönen Engländerin ins Wort: »Salt gab nur den Auftrag für den Transport, ausgeführt wurde das Unternehmen von Belzoni. Auch Belzoni lebte einige Wochen im Maison de France, als er den Transport des Steinkolosses überwachte. Dort drüben« - er zeigte über den Fluß - »dort hat man ihn gefunden. Irgendwann vor 30 Jahren wohnten Champollion und sein Assistent Rosselini im Schloß, und zwei Jahre später diente es der ganzen Schiffsmannschaft als Unterkunft, die von der französischen Regie -rung ausgesandt war, um den großen Obelisken nach Paris zu holen. Seither wird es vornehmlich von französischen Ausgräbern genutzt; daher auch der Name.« Während Sally und Omar sich um das Gepäck kümmerten, stiegen die beiden Männer mit der Lady die schmale Steintreppe zum Schloß empor. Galli du Maunier, seit zwanzig Jahren der einzige regelmäßige Bewohner des Maison, reichte Kaffee zur Begrüßung, brachte seine Camera obscura in Anschlag und machte, unterstützt von einem Pulverblitz, eine fotografische Aufnahme zur Erinnerung. Leider werde er demnächst ausziehen.