»Aber Belzoni ist doch seit 40 Jahren tot!« entrüstete sich Lady Gordon. »Soviel ich weiß, starb er auf einer Expedition am Niger.«
Ismain kicherte leise in sich hinein und wiederholte: »Zie -hen Sie sich an und kommen Sie.« Schwankend zwischen wachsender Neugierde und zu Vorsicht ratender Vernunft überlegte Lucie, was zu tun sei. Wollte der Alte sie in eine Falle locken? »Hier können Sie nicht bleiben, Mrs. Belzoni«, sagte Is-main, »alle sind hinter Ihnen her, die Ausgräber aus el-Kurna, der französische Konsul Drovetti und der englische Konsul Henry Sah.«
Er muß verrückt sein, dachte Lady Duff Gordon, dieser Mann muß verrückt sein! Alle Welt wußte, daß Henry Salt tot war. Die Reiseberichte des Diplomaten und Sammlers wurden verschlungen, seinen Nachlaß hatte Sotheby's in einer Siebentage-Auktion versteigert. »Warum sind Salt und Drovetti hinter mir her?« fragte Lucie. Ismain drehte die Handflächen nach außen. »Wissen Sie, Mrs. Belzoni, Mister B. ist als Ausgräber zu erfolgreich. Er hat in einem Jahr mehr ausgegraben als Generationen von Ausgräbern vor ihm, Abu Simbel, das Grab des Sethos im Tal der Könige, die Grabkammer der Chefren-Pyramide, und er hat jedesmal viel Geld verdient. Geld aber schafft Feinde, Mrs. Belzoni. Kommen Sie, bevor der Tag anbricht!« Um Zeit zu gewinnen, sagte Lucie: »Können wir die Flucht nicht auf morgen verschieben, ich bin doch überhaupt nicht vorbereitet!«
Ismain sah die Lady prüfend an, als wollte er sagen: Sie mißtrauen mir wohl, Mrs. Belzoni?, sagte dann aber nichts, stand auf, ging zur Türe, drehte sich um und meinte: »Also gut. Morgen um dieselbe Zeit; aber verlassen Sie das Haus nicht. Es ist zu gefährlich, Sie wissen ja ... « Den Rest der Nacht verbrachte Lady Duff Gordon im Halbschlaf. Immer wieder überlegte sie, was es mit dem alten Ismain wohl für eine Bewandtnis hatte. Am nächsten Morgen beim gemeinsamen Frühstück im Innenhof des Tempel-Schlosses berichtete Lucie von dem nächtlichen Besucher. Mariette entschuldigte sich, daß man die Lady nicht vorgewarnt habe. Der alte Ismain sei 97 Jahre alt, ein weiser alter Mann. Sein ältester Sohn sei geboren worden, als die Franzosen unter Napoleon in Luxor einmarschierten. Er selbst habe Belzoni als Führer nach Abu Simbel gedient und habe sie alle gekannt, die großen Forscher und Abenteurer: Burckhardt, Champollion, Lepsius. Nur leider habe sein Gedächtnis vor 5 o Jahren ausgesetzt, heute erinnere er sich nur noch an Dinge, die vor mehr als 5 o Jahren passiert sind. Ob er sie belästigt habe? »Nein, nein!« beteuerte Lucie, »ich war von seinen Erzählungen fasziniert. Aber wie kann ich ihm nur erklären, daß ich nicht Mrs. Belzoni bin?«
Said Paschas militärische Aufrüstung und der umstrittene Bau des Suez-Kanals führten Ägypten an den Rand des Staatsbankrotts. Daß es nicht soweit kam, verdankte der Vizekönig allein den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Amerikaner lieferten bis 1860 über 80 Prozent des europäischen Baumwollbedarfs. Für ägyptische Baumwolle zahlten die internationalen Broker bis dahin wenig. Als dann aber während des amerikanischen Bürgerkrieges die Baumwollie -ferungen nach Europa ausblieben, setzte ein Run auf ägyptische Baumwolle ein, die sich noch dazu als qualitativ sehr hochwertig erwies. Der Preis stieg im Sommer 1862 auf das Vierfache, und noch bevor der Republikaner Abraham Lincoln den Bürgerkrieg für sich entscheiden konnte, gab es am Nil einen glücklichen Gewinner: Said Pascha. Ihm gehörten ein Fünftel des kultivierten Landes, und für den Anbau des einjährigen Malvengewächses herrschten in Ägypten ideale Voraussetzungen. Ein entsprechendes Dekret des Khediven erlaubte den Fellachen seit einigen Jahren privaten Landbesitz, und als diese erst einmal gemerkt hatten, wieviel Geld mit Baumwolle zu verdienen war, da nahm ihr Anbau einen unerwartet steilen Aufschwung.
Said Pascha war es nicht vergönnt, die Früchte dieser Entwicklung zu genießen. Er starb im Januar 1863 an Tuberkulose. Sein Neffe Ismail trat an seine Stelle, allerdings ohne den Titel eines Khediven. Nicht einmal die, die ihn kannten, hätten erwartet, daß Ismail, der französisch erzogene und akademisch gebildete Kosmopolit, sich zu einem orientalischen Potentaten entwickeln würde. Was immer er anfaßte, geriet pompöser und prächtiger als die Hinterlassenschaften seiner Vorgänger, und bald schon hatte Ismail den Beinamen »der Prächtige«.
Ismail setzte seinen ganzen Ehrgeiz drein, Kairo dem Niveau europäischer Metropolen anzunähern oder es sogar zu übertreffen. Noch ehe Pariser Boulevards von Gaslaternen erhellt wurden, machten bei Einbruch der Dämmerung Kairoer Laternenanzünder in Turban und Kalabija die Runde. Zu seinen Lieblingsprojekten gehörten das Opernhaus, ein Theater in Kairo und Paläste, Paläste, Paläste. »Jeder Mensch«, meinte er einmal, »hat seine kleine Verrücktheit. Meine Verrücktheit sind Bausteine und Mörtel.« Vom Palast auf der Zitadelle von Kairo hatte Mohammed Ali einmal gesagt: »Solange meine Nachkommen die Zitadelle in Besitz halten, so lange herrschen sie über Ägypten.« Dieser Palast erschien Ismail als Residenz viel zu heruntergekommen und altmodisch, er ließ deshalb den Abdin-Palast errichten, welcher fortan den Vizekönigen am Nil als Regie -rungssitz diente. Daneben entstanden aber auch der Insha-Palast, der Ismailia-Palast mit der größten Parkanlage von allen, ein Palast auf der Nilinsel Gesira, der Giseh-Palast, der Zaaferan-Palast östlich von Kairo am Rande der Wüste und ein kleiner, aber feiner Palast in der östlichen Provinz Shar-kia, in dem Ismail nur insgesamt vier Stunden seines Lebens verbrachte.
Aber Ismail Pascha vernachlässigte auch die Provinz nicht. Er errichtete Brücken, Kanäle und Zuckermühlen. Unter seiner Regentschaft wurde Alexandria zum größten Hafen des Mittelmeeres ausgebaut. Oberägypten erhielt Eisenbahnanschluß, und eine Telegraphenlinie ließ er bis in den Sudan verlegen.
In der Wüste südöstlich von Kairo, am Abhang des Moka-tam-Gebirges bei der Ortschaft Heluan, wurde ein mondäner Kurort aus dem Sand gestampft. Schwefelquellen sprudelten hier seit alters her und versprachen heilsame Wirkung. Jetzt wurde fruchtbare Erde aus dem Delta herbeigeschafft, ein quadratisches Straßennetz angelegt und ein Grandhotel nach dem Vorbild gleichrangiger Etablissements an der Cote d'Azur errichtet. Und da er einheimischen wie ausländischen Badegästen einen 3o-Kilometer-Kamelritt ersparen wollte, baute Ismail eine direkte Eisenbahnlinie nach Heluan. Durch die uralte Siedlung legte er moderne Straßenzüge mit Bäumen und Arkaden, und es war kaum zu übersehen, daß dabei die Pariser Rue de Rivoli Pate stand. 30000 Arbeiter legten schließlich in nur drei Monaten auch eine schnurgerade Prachtstraße zu den Pyramiden durch den Wüstensand. Dem Kanal-Projekt stand Ismail Pascha kaum weniger aufgeschlossen gegenüber als sein Vorgänger Said - mit Einschränkungen allerdings: Daß ein schmaler Landstreifen zu beiden Seiten des Kanals laut Vertrag zum Besitz der Kanalgesellschaft gehörte, war dem Pascha ebenso ein Dorn im Auge wie die unentgeltlichen Dienstleistungen der 35000 Arbeiter, die zum Kanalbau eingesetzt wurden. Die Forderungen des neuen Vizekönigs trafen die Com-pagnie Universelle du Canal Maritime de Suez gerade zu einem Zeitpunkt, da sie sich ohnehin in finanziellen Schwierigkeiten befand. Sollte sie auch noch Tausende von Arbeitskräften bezahlen, so drohte der Bankrott des Unternehmens. Doch Ferdinand de Lesseps, als Konstrukteur und Geschäftsmann gleichermaßen genial, fand auch diesmal einen Ausweg aus der Krise. Er überzeugte Kaiser Napoleon III. von der nationalen Notwendigkeit des Kanals für Frankreich und erhielt eine Finanzspritze von 84 Millionen Francs.