»Wenn ich an meine ersten Jahre in Ägypten denke« - Mariette lachte - »dann begreife ich es eigentlich bis heute nicht, wie ich es mutterseelenallein mitten in der Wüste ausgehalten habe.«
Auch der Preuße amüsierte sich: »Aber Sie konnten sich doch über mangelhaften Komfort nicht beklagen, wenn ich an das Duschbad in der Wüste denke ...«
»... und an das Dinner im Stiersarkophag .. .«
»... und an meine Schlafstube neben der Mumie Chaemweses ... «
Die Männer schlugen sich vor Vergnügen auf die Schenkel, ihr Gelächter hallte durch die Räume, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich beruhigt hatten.
Der Bote ließ sich nicht abweisen, obwohl Omar drohte, ihn über die Treppen des Maison hinabzuwerfen: »Die Hakima muß kommen, und zwar sofort, unten wartet die Kutsche!« Seit Lady Gordon eine Frau des Mudir mit Chinintabletten vom Fieber geheilt hatte, galt Lucie als Hakima, als Ärztin, und es wurden ihr beinahe magische Fähigkeiten nachgesagt. Der nächste Arzt, das nächste Hospital, waren 60 Kilometer entfernt in der Provinzhauptstadt Kena.
Obwohl es schon spät war, hielt Lucie ihren Diener zurück und erkundigte sich nach dem Begehr des Boten. »Bitte, Hakima, kommen Sie schnell«, flehte dieser, »der kleine Sohn von Scheich Yussuf ist umgefallen. Er liegt da mit offenen Augen und offenem Mund, seine Lippen sind blau und die Hände kalt. Wenn Sie nicht kommen, muß er sterben! Bitte!«
Die Cholera! Für Lady Duff Gordon gab es keinen Zweifel. Obwohl sie auch nicht wußte, wie sie dem kleinen Yussuf helfen sollte, schulterte sie ihre Tasche mit der Hausapotheke, dem kostbarsten Besitz in dieser gottverlassenen Gegend. Sie hatte selbst panische Angst, jener unberechenbaren Seuche zum Opfer zu fallen, und es kostete sie viel Überwindung, zu dem Boten in die Kutsche zu steigen. Dieser knallte dem Esel die Peitsche auf den Rücken, und das Grautier trabte mit dem Wagen durch die menschenleeren Straßen. Was sollte sie nur tun? Es gab kein Mittel gegen Cholera, die seit dreißig Jahren immer wieder von Indien westwärts vordrang und Hunderttausende dahinraffte. Meist schleppten Mekka-Pilger die Seuche ein. Chinin, das weiße kristalline Wunderpulver aus Chinarinde, war das einzige Mittel, das Lucie zur Verfügung stand. Damit behandelte man schon seit Jahrzehnten Malaria, Herzrhythmusstörungen und Lungenentzündung. Scheich Yussuf küßte der Engländerin die Hände, er weinte und stammelte: »Er darf nicht sterben, Hakima, er darf nicht sterben. Meine Felder, meine Tiere, alles soll Ihnen gehören, aber Yussuf darf nicht sterben!« Lucie, die sich gerne nach außen hin kühl gab, um ihr verletzbares Inneres abzuschirmen, schluckte. Die Verzweiflung des Scheichs drohte ihre Kehle zuzuschnüren. Als sie den kleinen Jungen erblickte, der zusammengekrümmt auf einem Polster lag, wußte Lady Duff Gordon sofort, daß jede Hilfe zu spät kam. Die verkrampften Gesichtszüge verrieten große Schmerzen. Lucie fühlte seinen Puls.
Erst spürte sie gar nichts; dann - endlich - unregelmäßige Herzschläge. Die Zeit von einem Pulsschlag zum anderen wurde immer länger, unendlich lang. Die Unregelmäßigkeit der Pulsschläge war zermürbend. Jeder konnte der letzte sein.
Yussuf und die Mutter des Jungen knieten auf dem Teppich, sie beteten im halblauten Singsang, schlugen mit ihrer Stirne hart auf den Boden. Ratlos blickte Lucie um sich; dann griff sie nach einem halbleeren Teeglas, holte aus ihrer Tasche ein Papiertütchen mit der Aufschrift »Laudanum« hervor, schüttete etwas von dem Pulver in das Glas und flößte dem kleinen Yussuf den Heiltrank ein. Yussuf gurgelte, schluckte, spie den Rest von sich, aber nach wenigen Augenblicken lösten sich die Verkrampfungen seines Körpers. Das Opiat tat seine Wirkung. Der alte Scheich rutschte auf den Knien zu Lucie, versuchte ihre Hände zu fassen, aber sie entzog sie ihm. »Yus-suf«, sagte sie, »Yussuf, es ist zwecklos. Sieh dir den Jungen doch an! Sein kleiner Körper ist blau unterlaufen. Es gibt keine Hoffnung mehr - die Cholera!« Yussuf nickte und wandte den Kopf zur Seite, die Mutter des Jungen betete weiter. Obwohl sie nicht wußte, was noch zu tun sei, wagte Lucie nicht zu gehen. Zu dritt hockten sie um den sterbenden Jungen herum, starrten auf den schmächtigen, dunkelgefärbten Brustkorb, der sich kaum noch merklich hob und senkte.
Sie mochten wohl zwei Stunden so gesessen sein, als Lucie hochschreckte: Der kleine Körper zeigte keine Regung mehr. Lucie sprang auf, griff das Handgelenk des Jungen, dann sah sie den Scheich wortlos an. »Hakima!« rief dieser, »Hakima!« Die Lady nickte. Ohne ein Wort zu sagen, nahm sie ihre Medikamententasche und ging. Vor dem Haus zündete sie eine Zigarre an und blies den weißen Rauch in die Nacht. Der Kutscher wartete. Die Laternen flackerten.
»Er ist tot«, sagte Lady Gordon, während sie in die Kutsche kletterte. »Ich konnte ihm nicht mehr helfen.« Der Kutscher schwieg. Lucie sog den Rauch ihrer Zigarre ein wie eine kostbare Medizin. »Dabei sagt man«, begann sie von neuem, »die Cholera würde alle am Nil gelegenen Ortschaften verschonen, Nilwasser sei das beste Vorbeugungsmittel gegen die Seuche. Bring' mich nach Hause.« Lucie schloß die Augen.
Weil der Kutscher nicht reagierte, beugte sie sich nach vorne, gab dem Kutscher einen Schubs und rief: »He, Alter, fahr los!«
Langsam und lautlos sackte die Gestalt vor ihr zusammen, glitt scheuernd vom Kutschbock und klatschte laut auf die Straße. Es dauerte eine Weile, bis Lady Gordon begriff, was geschehen war. Sie sprang aus dem Wagen, warf den reglos daliegenden Kutscher auf den Rücken und starrte in ein verzerrtes, blau angelaufenes Gesicht: Der Mann war tot. Als träfe sie die Schuld an seinem Ableben, blickte Lady Gordon sic h hilflos um, ob niemand den Vorfall bemerkt habe, dann griff sie nach ihrer Medikamententasche und hetzte davon. Die Nacht war unruhig in dem sonst verträumten Provinznest Luxor. Aus der Ferne drangen Schreie, vermummte Gestalten huschten vorüber. Vor den Türen einiger Häuser brannten Feuer, die einen ätzenden Gestank verbreiteten. Angst und Mißtrauen gingen um. Jeder Fremde wurde verdächtigt, die Seuche mit sich herumzutragen und weiter-zuverbreiten. Türen wurden verrammelt, Querbalken versperrten den Zutritt zu den Wohnungen. Atemlos erreichte Lucie das Maison. Sie schob den schweren Riegel vor die sonst unverschlossene Tür am Treppenaufgang, lehnte sich erschöpft gegen die Mauer und lauschte durch das vergitterte Fenster in die unheimliche Nacht. Müde zog sie sich die steile Treppe empor. In dem dunklen Innenhof, auf der Stufe vor ihrer Tür, lag ein Mensch. Lucie erstarrte vor Schreck, Schweiß trat auf ihre Stirn, sie zitterte am ganzen Körper. Hatte die Seuche bereits ihre Schwelle erreicht?
Auf Zehenspitzen ging Lucie näher, schlich um die Gestalt am Boden herum und wollte soeben in ihrem Zimmer verschwinden, als sie die Stimme des alten Ismain vernahm: »Guten Abend, Mrs. Belzoni, ich habe auf Sie gewartet...«
Nirgends wütete die Cholera so furchtbar wie in der Millionenstadt Kairo. Die Sargmacher kamen den Bestellungen nicht mehr nach, Holz wurde knapp. Als auch in Warenlagern und Magazinen keine Kisten mehr aufzutreiben waren, wurden auch die wohlhabenderen Toten in Tücher gehüllt, zu Hunderten in Massengräber gelegt, mit Kalk bestreut und notdürftig verscharrt. Über der Stadt lag eine stinkende Wolke, die den Überlebenden Schauer einjagte. Unter den Europäern setzte eine Massenflucht ein. In Alexandria wurden Schiffspassagen nach Europa mit Gold aufgewogen. Mitglieder der vornehmen Gesellschaft, die gewohnt waren, sich von Dienern die Schuhe ausziehen zu lassen, rauften sich um einen Platz Dritter Klasse. Arbeiter in den Baracken der Kanalbau-Gesellschaft konnten auch von den Ärzte-Teams, die Lesseps organisierte, nicht besänftigt werden, sie flohen blindlings in die Wüste, wo sie sich vor der Seuche sicher glaubten, aber nicht selten an Hunger und Durst zugrunde gingen.