Mariette lebte seit dem Tod seiner Frau Eleonore zurückgezogen nur noch für die Forschung. Die Grabungen an über dreißig verschiedenen Orten, die während der Cholera-Epidemie geruht hatten, waren wieder in vollem Gange, da traf am z. April 1866 Richard Lepsius in Kairo ein. Zwanzig Jahre waren vergangen, seit Lepsius die bestorganisierte und wohl auch erfolgreichste Expedition durch das Niltal geführt hatte. Er und seine Männer, ein Architekt, ein Gipsformer, zwei Zeichner, zwei Maler und ein Pfarrer für alle Fälle, mußten sich mit Heuschrecken herumplagen, mit einer Mäuseinvasion und arabischen Banditen. Durst und Hunger brachten sie an den Rand des Todes, und beinahe wären sie bei lebendigem Leib in ihrem Zelt verbrannt. Der gute Rat, Ausgrabungen nie ohne Waffe vorzunehmen, stammte nicht etwa von Mariette, sondern von Lepsius, der stets mit zwei geladenen Pistolen unter der Decke schlief. Sie begegneten sich zum erstenmal in der Direktion der Altertümerverwaltung, wo Lepsius, korrekt, wie er war, eine Erlaubnis für seine geplanten Forschungen einholen wollte. Auch Mariette gab sich betont gewissenhaft, nannte es eine Ehre für das ganze Land, wenn der große Preuße mit neuen Forschungsarbeiten beginne? Wo sich denn seine Mannschaft befinde.
»Wir sind die Mannschaft, Monsieur!« antwortete Lepsius und deutete auf sich und seinen Begleiter, den Zeichner Ernst Weidenbach.
Mariette sah den großen Richard Lepsius ungläubig an, für einen Augenblick wußte er nicht, ob sich dieser über ihn lustig machte, oder ob er die Wahrheit sprach. Er hätte erwartet, daß der Preuße mit einem Heer von Assistenten, Hilfswissenschaftlern und Helfershelfern anrückte - Ma-riette überging die Antwort.
»Und wo wollen Sie diesmal graben?« fragte Mariette und griff zur Feder. Spätestens jetzt spürte Lepsius, daß er keinesfalls ein »Prussien de son coeur« war wie Brugsch, sondern ein, wenn auch berühmter, so doch ganz normaler Ausgräber, der um eine Grabungserlaubnis nachsuchte.
»Nicht graben - forschen!« antwortete Lepsius kühl. »Das Graben will ich getrost Ihnen überlassen. Ich beschäftige mich seit geraumer Zeit mit den Stätten der Bibel.« »Interessant!« Auguste Mariette lehnte sich in seinem Ledersessel zurück und verschränkte die Arme über der Brust, was er immer tat, wenn er einen Gesprächspartner als Gegner zu betrachten begann. »Eines will ich Ihnen aber gleich sagen, Herr Professor Lepsius, das Gesetz gegen die Ausfuhr von Altertümern wird diesmal nicht außer Kraft gesetzt, und Grabungen müssen offiziell gemeldet und genehmigt werden. Und zwar hier, an diesem Schreibtisch.« Bei diesen Worten tupfte er mit dem rechten Mittelfinger energisch auf den Tisch.
Mariette spielte damit auf einen Firman des Paschas Mohammed Ali an, der dem preußischen Gelehrten bei seiner ersten Expedition alle erdenkbaren Freiheiten gewährt hatte. Richard Lepsius durfte damals 15000 Fundstücke außer Landes schaffen, ja der Pascha schickte ihm sogar eigene Schiffe entgegen, um die Funde von der Südgrenze Ägyptens nach Alexandria zu transportieren. Lepsius griff kräftig zu, sägte einen tonnenschweren buntbemalten Pfeiler aus dem Grab Sethos' I. und ließ vier Bauarbeiter aus Berlin kommen, die in Giseh drei komplette Grabkammern Stein für Stein abbauten und per Schiff in die preußische Hauptstadt transportierten.
»Ich möchte«, sagte der Professor, »diesmal in das östliche Nildelta gehen. Selbst wenn man skeptisch gegenüber den Zahlenangaben in der Bibel ist und weit weniger als 600000 israelitische Männer, Frauen und Kinder mit ihrem Vieh von Ramses aus zu ihrer Wüstenwanderung aufgebrochen sind, muß doch ein ganzes Volk seine Spuren hinterlassen haben. Diese Stadt Ramses kann nicht völlig von der Erdoberfläche verschwunden sein!«
Jetzt war Mariette gekränkt. Er hatte schon vor sechs Jahren im Delta nach der Stadt Ramses gesucht.
»Wenn Sie ins Delta gehen«, bemerkte er, »dann könnten Sie doch auch einmal einen Blick auf die Baureste werfen, die Ferdinand de Lesseps bei den Schachtarbeiten zum Suezkanal freigelegt hat. Ich weiß damit nichts Rechtes anzufangen.«
Lepsius willigte ein, und Mariette versprach, den Professor mit dem großen Ingenieur bekannt zu machen. Es traf sich gut, daß der soeben aus Frankreich zurückgekehrte Lesseps im Begriff war, eine Inspektionsreise in das Kanalgebiet zu machen. Er betrachtete es als eine Ehre, dem berühmten Archäologen seinen Kanal zeigen zu dürfen. Am nächsten Morgen um sieben Uhr stand auf dem Bahnhof in Kairo ein Sonderzug unter Dampf. Sie brachte Lep-sius und Lesseps und ihre Begleiter, insgesamt vierzehn an der Zahl, bis zum östlichen Endpunkt der Eisenbahnlinie, nach Zagazig. Dort wurde das Gepäck auf eine Barke verladen, mit der sie die Reise auf dem neuen Süßwasserkanal zum Timsah-See fortsetzten. Zu beiden Seiten des Kanals leuchtete fruchtbares Land, auf dem Getreide und Gemüse in saftigem Grün gediehen. Streckenweise war der Damm für die Eisenbahn bereits fertig. Sie sollte einmal bis nach Timsah führen, das nun Ismailia hieß. Lepsius bewunderte diesen Franzosen, der leicht und gewandt über sein Unternehmen plauderte und dabei persönliche Liebenswürdigkeit mit französischem Esprit würzte.
»Und wann glauben Sie, wird das Werk vollendet sein?« erkundigte sich der Preuße.
Lesseps holte tief Luft und antwortete: »Wissen Sie, Professor, das ist vor allem eine Frage des Geldes. Ich brauche, von meinem disponiblen Kapital einmal abgesehen, noch hundert Millionen Francs. Aber ich werde sie auftreiben.« »Ist es indiskret zu fragen, wieviel das Bauwerk insgesamt kostet?«
»Ganz und gar nicht. Die Compagnie Universelle du Canal Maritime de Suez ist eine Aktiengesellschaft. Ihre Bilanzen sind für jedermann einzusehen. Unser ursprüngliches Kapital betrug 200 Millionen Francs in Aktien zu 500 Francs. Davon wurden 80 Millionen von französischen Kapitalisten gezeichnet, ein kleiner Teil auch von deutschen, den Rest von 120 Millionen übernahm die ägyptische Regierung.« »Kolossale Summen sind das«, staunte der Preuße, »wirklich kolossal!«
Sie mochten wohl drei Stunden gesegelt sein, als die Barke in Tell el-Kebir anlegte, einem kultivierten Ort mit komfortablen Häusern zwischen schlanken Palmen und blühenden Gärten. Lesseps hatte hier für die Compagnie Büros errichten lassen.
»Welch historischer Boden!« meinte Lepsius und blickte nach Süden. »Hier muß das biblische Land Goschen gelegen haben, irgendwo fand hier der Exodus der Israeliten statt.« Für einen Augenblick wurden auch Lesseps und seine Mitarbeiter nachdenklich. Ihnen, denen beim Anblick dieser Landschaft nur Kubikmeterzahlen, Arbeitsstunden und Millionensummen in den Sinn kamen, mit denen sie diese Rie -senfurche durch die Wüste zogen, hatten die schlichten Worte des deutschen Professors plötzlich bewußt gemacht, daß diese Landschaft eine schicksalhafte Vergangenheit hatte. Spontan entschlossen sie sich, für ein paar Stunden Winkel, Zahlen und Bilanzen zu vergessen und dem Gelehrten auf Maultieren zu den Grenzen des Wadi zu folgen, wo die grünenden Kulturen vom gelben Wüstensand begrenzt wurden.
Die Sonne stand schräg am Himmel, als die kleine Karawane auf einem Hügel haltmachte, dem die Fellachen den Namen Tell el-Maschute gegeben hatten: »Hügel der Idole«. Seit frühester Zeit fand man hier kleine Götterbilder im Wüstensand, die den Namensring des großen Ramses trugen, und Lepsius hatte schon bei seiner letzten Expedition Ram-ses-Statuen gefunden.
»Wenn Sie die langen Schatten betrachten«, sagte Richard
Lepsius und zeigte auf den Boden, »dann erkennen Sie den Grundriß verschiedener Gebäude.« In der Tat, jetzt sahen es auch die Franzosen: aneinandergrenzende, sich überlappende Rechtecke. »Der Name Pithom«, fuhr der Professor fort, »ist vermutlich von dem altägyptischen >Per-Atum< abgeleitet, was soviel bedeutet wie >Haus des Atum<. Daher die vielen Funde mit dem Bild Atums, des Sonnengottes. Man müßte graben und nach einem Atum-Tempel suchen. Fänden wir Reste eines solchen Bauwerkes, dann hätten wir wohl den Beweis . . .« Hatte zunächst Lepsius den dynamischen Ingenieur bewundert, so war nun Ferdinand de Lesseps von der Arbeit des Altertumsforschers beeindruckt. Die Nacht verbrachte die Reisegesellschaft im »Hotel des Voyageurs« in Ismailia. 4000 Einwohner zählte inzwischen der Ort an der Einmündung des Süßwasserkanals in den Meerkanal. Vor vier Jahren stand hier noch kein einziges Haus. Jetzt zogen sich sandige Straßen zwischen Magazinen und Läden, Behörden und Firmenniederlassungen hindurch - eine Stadt wie im Goldgräberfieber, wo das Geld, das am Tag verdient wurde, nachts in die Taschen der Kneipenwirte, der Glücksspielunternehmer und Zuhälter floß. Schon jetzt bildeten sich außen herum um die besseren Viertel die Slums der Araber.