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»Merkwürdig«, sagte Ferdinand de Lesseps abends beim Diner im Hotel, »wir wühlen beide im gleichen Sand - nur mit umgekehrter Perspektive. Ihr Blick, Professor, geht in die Vergangenheit, der meine ist in die Zukunft gerichtet. Bis zum heutigen Tag glaubte ich, es gebe nichts Wichtigeres als das Kanalprojekt. Seit ich Ihnen heute zugehört habe, bin ich im Zweifel.«

Richard Lepsius lächelte ein wenig verlegen: »Die Zukunft wird lehren, wer von uns beiden den wichtigeren Teil erwählt hat, wer der Menschheit von größerem Nutzen ist.« »Sie zweifeln am Nutzen des Kanalprojektes?« Der Preuße versuchte eine diplomatische Antwort: »Mon-sieur le Directeur, Jahrhunderte segelten die Schiffe auf dem Weg nach Indien um das Kap der Guten Hoffnung. Warum in aller Welt sollen sie es auf einmal nicht mehr tun?« Lesseps machte ein ernstes Gesicht: »Die Segelschiffe weichen den Dampfschiffen. Der Handel mit dem Fernen Orient, mit Indien, China und Japan nimmt ständig zu. Der großen Kosten wegen müssen die Dampfschiffe den kürzeren Weg wählen.«

»Gesetzt den Fall, Sie hätten recht, dann sind noch immer Zweifel angebracht, ob die Einnahmen des Kanals jemals die Kosten für seinen Bau einspielen.« »Da, mein lieber Professor, kann ich Sie beruhigen. Vorausgesetzt, die Engländer boykottieren den Kanal nicht -und auf längere Zeit gesehen können sie sich das überhaupt nicht leisten -, dann können wir selbst bei niedrigen Gebühren für die Schiffspassage die Interessen unserer Kapitalgeber durchaus befriedigen.«

»Nun gut«, sagte Lepsius, »meine guten Wünsche begleiten Sie. Im Grunde profitiert die Menschheit doch von uns beiden. Was wäre die Menschheit ohne Zukunftsperspektiven! Und was wäre die Menschheit ohne Wissen um ihre Vergangenheit!«

Die Männer an der Tafel erhoben sich und prosteten sich zu. »Auf unsere Zukunft!« »Auf unsere Vergangenheit!«

Tags darauf bestiegen Professor Lepsius und sein Assistent Ernst Weidenbach zusammen mit Lesseps ein Dampfschiff, um auf dem ersten Kanalabschnitt nach Norden zu fahren. Die ausgegrabenen Baureste erwiesen sich bei näherem Hinsehen als Relikte aus der Perserzeit, als König Da-rius den Versuch unternahm, Mittelmeer und Rotes Meer mit einem Kanal zu verbinden.

»Sie sehen«, meinte Lepsius an den Direktor der Compa-gnie gewandt, »Ihre Idee ist nicht ganz neu; aber trösten Sie sich, auch der Perserkönig hatte bereits seine Vorbilder.« Er lachte: »Wie gut, daß Sie bei der Planung des Kanals die Geschichte ignorierten . . .« »Ich verstehe nicht«, sagte Lesseps. Der Professor aus Berlin fuhr fort: »Viertausendjahre Geschichte dieses Landes lehren uns, daß alle Kanal-Projekte zwischen den beiden Meeren trotz höchstem Aufwand entweder scheiterten oder schon nach wenigen hundert Jahren versandeten. Selbst von Großkönigen wie Darius oder Ram-ses forderte die Natur ihren Tribut.« Ferdinand de Lesseps deutete auf das Ufer des Kanals: »Sie vergessen nur eines, Professor, weder Ramses noch Da-rius standen solche Draguen zur Verfügung. Diese Baggermaschinen leisten mehr Arbeit als tausend Mann. Vor allem aber arbeiten sie auch unter Wasser. Vor dem Versanden des Kanals müssen wir uns also heutzutage gewiß nicht mehr fürchten.«

In Port Said, am nördlichen Eingang des Kanals, trennten sich die beiden Kontrahenten freundschaftlich. Port Said, vor sieben Jahren auf unfruchtbaren, wasserlosen Dünen gegründet, war inzwischen zu einer Stadt von 7000 Einwohnern angewachsen. Während der Direktor der Kanalgesellschaft den Bau der kilometerlangen Hafenmolen inspizierte, heuerten Lepsius und Weidenbach eine kleine Kamelkarawane an, mit der sie nach Westen zogen. Das Ziel hieß San el-Hagar.

San el-Hagar lag in der Steppenebene südlich des Menza-leh-Sees und wurde größtenteils von wucherndem Gestrüpp überdeckt. Doch unter dieser beinahe undurchdringlichen Wildnis erinnerten gewaltige Steintrümmer, zerschlagene Statuen, geborstene Säulen und Obelisken an das griechische Tanis, das Zoan der Bibel.

Am Rande des Trümmerfeldes schlugen Lepsius und Weidenbach ihre Zelte auf und brieten über offenem Feuer das mitgebrachte Fleisch. Die Kameltreiber, abseits, folgten ihrem Beispiel. Richard Lepsius nahm die Brille ab, goß Wasser aus einem Lederschlauch in die Hand und wischte sich genußvoll den Schweiß aus der Stirne. »Wir brauchen diesmal mit dem Wasser nicht zu sparen«, sagte er, »die Wasservorräte reichen für drei Wochen; außerdem können wir die Kameltreiber nach Port Said schicken.« Der junge Weidenbach holte tief Luft. »Wir werden viel Wasser brauchen. Wir sind spät dran, die Sommerhitze hat bereits eingesetzt.«

Lepsius meinte, sie könnten das Unternehmen ja abbrechen, wann immer sie wollten; schließlich stünden sie diesmal nicht unter Erfolgszwang. Aber das lehnte Weidenbach mit Bestimmtheit ab.

Richard Lepsius verstand sich mit Ernst Weidenbach sehr gut. Als einziger des preußischen Expeditionschorps hatte er sich 1845 in Luxor freiwillig gemeldet, um mit Lepsius den Berg zu suchen, auf dem Moses einst die Zehn Gebote in Empfang nahm. Alle übrigen Begleiter fühlten sich damals, nach über zwei Jahren in der Wüste unter Dreck und Trümmern, zu ausgelaugt, zu kaputt. Zusammen mit Weidenbach und drei Trägern zog Lepsius durch die Arabische Wüste, setzte über das Rote Meer und nahm Kurs auf den Sinai. Gut dreißig Jahre vor den Preußen hatte der Schweizer Johann Ludwig Burckhardt den Sinai durchquert und die Vermutung geäußert, nicht der Dschebel Musa sei die Stätte der Gesetzgebung gewesen, sondern das Serbai-Gebirge. Damals hatte ihm niemand geglaubt. Als Lepsius und Weidenbach an den Fuß des Dschebel Musa gelangten, fanden sie außer einem Kloster nur steinige, wasserlose Wüste. Woher aber sollten die Israeliten hier Wasser und Nahrung für sich und ihr Vieh bezogen haben? Dies fanden sie dagegen reichlich am Fuße des Serbai-Gebirges. Hier gab es Wasser und fruchtbares Land, ja sogar das biblische Manna hing in den Bäumen. Lepsius entzifferte uralte Steininschriften von Wallfahrern, die in früherer Zeit noch von diesem Ort wußten. Am 4. Mai 1845 waren Lepsius und Weidenbach dann nach 16 anstrengenden Tagen erschöpft nach Luxor zurückgekehrt, wo die übrigen Expeditionsmitglieder auf sie warteten.

Lepsius sah ins Feuer, dessen Flammen sein silbriges Haar abwechselnd gelb und rot färbten. »Weißt du, Weidenbach«, sagte er nach einer Weile, »dieser Mariette ist zwar berühmt, aber er ist einfach ein Dummkopf.« Weidenbach sah den Professor fragend an. »Er benützt seine Macht, die ihm mehr oder weniger zufällig zugefallen ist, um seine vielfach falschen Theorien zu beweisen. Aber was falsch ist, wird auch nicht durch ständige Wiederholung richtig. Glaube mir, er ist wirklich ein Dummkopf!«

Der andere stocherte lustlos im Feuer herum und sagte: »Sie meinen wegen seiner Theorie um die Stadt Tanis?« »Genau das meine ich«, antwortete Lepsius. »Ich kann einfach nicht glauben, daß die Stadt Ramses hier in dieser tristen Gegend gelegen haben soll. Wir müssen diesen Ort genau wie Pithom im Wadi Tumilat suchen.« »Mariette stützt sich auf die Funde . . .« »Ach was!« unterbrach ihn der Professor. »Nur weil er dort ein paar Sphingen und Statuen mit dem Namen Ram-ses' II. und seines Sohnes Merenptah gefunden hat, kann er doch nicht behaupten, das biblische Ramses entdeckt zu haben. Man findet überall in Ägypten Ramses-Statuen, du brauchst nur ein bißchen zu graben.« Weidenbach gähnte, ließ sich rückwärts in den Sand sinken und betrachtete das Meer von Sternen. »Wir sollten das Feuer löschen und schlafen gehen«, sagte er. Lepsius nickte stumm.