Mit den ersten Sonnenstrahlen des nächsten Tages schälten sich die beiden Forscher aus ihren Decken. Die Kameltreiber hatten schon den Tee bereitet. Noch vor der Mittagshitze wollte Lepsius das Trümmerfeld einmal umrunden und einen exakten Lageplan skizzieren. In den nächsten Tagen wollte er dann an die Aufnahme der Details gehen und Inschriften kopieren, die zu Hause in Berlin bearbeitet werden könnten. Doch es kam anders.
»Um Gottes willen, Professor!« Weidenbach packte Lep-sius am Arm und deutete in den Sand. Dort glitt lautlos eine armdicke Schlange vorüber. Lepsius griff nach seinem Spaten. Aber noch ehe er zuschlagen konnte, verschwand das Reptil im dichten Gestrüpp eines Mauervorsprunges. »Wir müssen sie erschlagen, sonst bekommen wir heute nacht unliebsamen Besuch!« Richard Lepsius bog mit dem Spaten vorsichtig das Gestrüpp beiseite, aber die Schlange war verschwunden. Hastig schlugen die beiden Forscher das dornige Geäst mit den scharfen Kanten ihrer Spaten nieder, plötzlich sahen sie das Tier, den Kopf drohend auf die Männer gerichtet. Lepsius sprang zur Seite, holte aus und schlug mit aller Kraft auf die Schlange ein. Die scharfe Klinge trennte die Schlange in zwei Teile. Das kopflose Ende wand sich aufbäumend in die Höhe. »Das ist noch einmal gutgegangen!« sagte Weidenbach und sah den Professor erleichtert an.
Der starrte mit zusammengekniffenen Augen auf das Mauerwerk, nahm umständlich die Brille ab, setzte sie wieder auf und musterte den Stein erneut. Jetzt begutachtete auch Weidenbach die zwei Meter hohe Platte, die vor ihnen im Gestrüpp lag. Er stutzte: Die obere Hälfte trug eine Hie -roglypheninschrift, die untere einen griechischen Text. Hastig zählte der Assistent die Zeilen: 37 Linien Hieroglyphen, 76 Linien griechisch auf etwa 80 Zentimeter Breite. Richard Lepsius wanderte mit dem Zeigefinger über die Hieroglyphen und bewegte dabei kaum merklich die Lippen. Sein Assistent wagte nicht, ihn zu unterbrechen, er wagte nicht einmal, die getötete Schlange fortzuschaffen, er spürte nur, daß Lepsius auf etwas ungeheuer Wichtiges gestoßen sein mußte. Minutenlang herrschte beklemmende Stille; dann blickte der Professor über den Rand seiner Brille und sagte: »Weidenbach, das ist ein Geschenk der Götter Ägyptens!« Er legte seine Hand auf die Schulter des Assistenten. »Ich habe am Anfang an Champollions Ideen gezweifelt, die er bei der Entzifferung des Steines von Rosette entwik-kelt hat, und im Laufe der Jahre, in denen ich mich mit allen verfügbaren Inschriften beschäftigte, habe ich auch einige Irrtümer des Franzosen korrigiert. Champollion glaubte, die Hieroglyphen seien ausschließlich Wortkürzel. Ich habe immer gesagt, hinter den Hieroglyphen stünden auch Laut-und Silbenzeichen. Du weißt, wie viele Skeptiker und Zweifler es in dieser Hinsicht gibt. Aber der Text des Steines von Rosette ist einfach zu kurz, um alle Theorien zu untermauern. Jetzt, Weidenbach, haben wir ein zweites Vergleichsstück.«
»Herzlichen Glückwunsch, Professor!« Richard Lepsius stand die Freude an seiner Entdeckung ins Gesicht geschrieben. Aber er blickte kaum auf, sondern griff nach Papier und Bleistift, machte Notizen und sagte beiläufig: »In dem griechischen Text ist von einem König Ptolemaios die Rede, dem die Priester des Kanopos-Serapis hohe Ehren zuteil werden lassen. Wenn ich es recht verstehe, gab es eine Kalenderreform, die das Sonnenjahr einführt . . .«
Er deutete auf einige Wörter in dem griechischen Text: »Das hier«, sagte Lepsius, »wird uns sehr viel weiterhelfen. Die Wörter für Kanopos, Syrien, Phönizien, Cypern und Persien sind als Hieroglyphen bisher unbekannt. Aber ihre Lage in dem Text ist so charakteristisch, daß es nicht schwierig sein wird, sie zu finden. Weidenbach, jetzt wird sich zeigen, ob der alte Lepsius recht gehabt hat.« Die nächsten Tage verbrachten die beiden Preußen vor dem wertvollen Stein. Weidenbach entfernte das restliche Gestrüpp und machte sich dann daran, die einzelnen Hieroglyphenzeilen maßstabsgerecht auf einen großen Bogen zu kopieren. Dabei erwies sich die größte Mittagshitze als vorteilhaft, weil die Schriftzeichen in der beinahe senkrecht stehenden Sonne günstige Schatten warfen. Für sich selbst hatten sie ein primitives Sonnensegel gespannt, doch der glühende Sand reflektierte die Hitze von unten. Schweißgebadet, aber fasziniert von ihrer Entdek-kung, kopierten der Professor und sein Assistent die Inschriften, schütteten Unmengen Wasser in sich hinein, aßen kaum etwas, so besessen waren sie, eine brauchbare Abschrift herzustellen.
Als sie die Kopierarbeit beendet hatten, machte Lepsius eine neuerliche Entdeckung. »Weidenbach, sieh nur!« rief er begeistert und zog seinen Assistenten zur Seite. Der schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und sagte: »Daß wir das auch nicht sofort erkannt haben!« Auf dem schmalen Außenrand der Steinplatte war derselbe Text noch einmal in demotisch eingemeißelt, dem ägyptischen Volksdialekt. »Ich habe mich schon gewunden, warum die Hieroglyphen direkt ins Griechische übersetzt waren, ohne einen demotischen Text«, sagte Richard Lep-sius. »Jetzt haben wir ein exaktes Pendant zum Stein von Rosette. Das Dekret von Kanopos wird in die Geschichte eingehen.«
Von Osten her kam ein Reiter, dichte Staubwolken aufwirbelnd, herangeprescht. Lepsius ging ihm ein paar Schritte entgegen. Der Reiter schwenkte einen Brief in der Hand: »Sind Sie Professor Lepsius?« »Ja, ich bin Lepsius«, sagte der Professor. »Monsieur Lesseps schickt Ihnen eine Nachricht, es sei wichtig!«
Lepsius riß den Brief auf, überflog die hastig hingeworfenen Zeilen des französischen Ingenieurs und rief seinen Assistenten: »Weidenbach«, sagte er leise, »wir haben Krieg.« »Krieg?«
»Moltke marschiert gegen Österreich. Sachsen und Bay-ern haben sich auf die österreichische Seite geschlagen.« Weidenbach war betroffen: »Wie lange kann das dauern?« Lepsius hob die Schultern: »Das weiß kein Mensch, es kommt auch darauf an, wie sich die Franzosen verhalten. Auf jeden Fall kann der Konflikt in der schleswig-holsteinischen Frage sogar zu einem europäischen Krieg führen.« Ernst Weidenbach gab zu bedenken, ob es angesichts dieser bedrohlichen Lage nicht besser sei, die Expedition abzubrechen und den Heimweg über Frankreich zu nehmen. Lep-sius stimmte ihm zu: »Wir kehren zurück!«
Auguste Mariette und Heinrich Brugsch waren bei Ismail Pascha geladen, um letzte Order in Empfang zu nehmen. Der »Prächtige« hatte es sich in den Kopf gesetzt, auf der Weltausstellung 1867 in Paris sein Land angemessen zu präsentieren. Dazu waren mehrere Pavillons vorgesehen, eine Moschee und ein Museum, in dem Mariette Mumiensärge und den Grabschatz der Königin Ahotep ausstellen sollte. Der Direktor der Altertümerverwaltung war beauftragt worden, die Bauarbeiten zu überwachen, und sollte deshalb das kommende Jahr in Paris verbringen. Er hatte seine Zusage jedoch davon abhängig gemacht, daß Brugsch ihn mit Rat und Tat unterstützte.
In der mit Brokat tapezierten Roten Halle des Abdin-Pala-stes kamen sich die beiden klein und verlassen vor. Die bis zur Verschwendungssucht gehende orientalische Prachtentfaltung in den 500 Räumen und Sälen, überladen mit Alabaster, venezianischem Glas, Marmor und Mosaiken und Mobiliar in arabischem und byzantinischem Stil faszinierte sogar europäische Potentaten.
»Es wird uns beiden nicht schaden«, meinte Mariette, während sie in goldenen Fauteuils im Renaissancedekor auf das Eintreffen des Khediven warteten, »wenn uns ein biß -chen Pariser Luft um die Nase weht. Das Schicksal hat es nicht gerade gut gemeint mit uns im letzten Jahr.«
»Es war einfach zuviel für Pauline«, sagte Brugsch, »sie ist keine Frau, die im Orient leben kann. Die ungewohnten Menschen, die fremde Sprache, das unterschiedliche Leben und letztlich die furchtbare Cholera-Epidemie, all das hat in ihr den Entschluß heranreifen lassen, sich von mir zu trennen.«