Heinrich Brugsch schüttelte den Kopf: »Warum in aller Welt sollte Wagner das Ballett in den zweiten Akt verlegen?« »Monsieur«, sagte de Pene, »auch auf die Gefahr hin, daß Sie uns Pariser für frivol und dekadent halten - der Grund ist folgender: Paris hat zahlreiche einflußreiche Clubs, und der einflußreichste unter ihnen ist der Jockey-Club, lauter reiche Geschäftsleute und einflußreiche Beamte. Bei ihnen gehört es zum guten Ton, sich eine Ballerina zu halten - besser gesagt: sie auszuhalten. Vor einer Opernpremiere pflegen die Herren noch ausgiebig zu dinieren, und meist kommen sie erst zum zweiten Akt in die Oper. Wenn dann gerade ihre Favoritinnen auftreten, ist der Erfolg der Oper sicher.« »Aber das ist doch nicht möglich!« Mariette verschränkte die Arme vor der Brust. Brugsch zeigte sich eher belustigt. De Pene fuhr fort: »Was glauben Sie, warum Verdi mit seiner ersten Pariser Oper, der Sizilianischen Vesper, so großen Erfolg gehabt hat? Doch nur deshalb, weil er sich an die Spielregeln hielt.«
»Also in dieser Hinsicht möchte ich mich für Ismail Pascha verbürgen«, sagte Mariette. »Er würde an den Auftrag keine künstlerischen Bedingungen knüpfen, wenn sich der Maestro an meine Textvorlage hielte.« Die beiden vereinbarten ein Treffen in Kairo - wenn möglich sogar mit Giuseppe Verdi. Dann gingen sie zum Diner im großen Ballsaal.
Der 1. April 1867, der Termin der festlichen Eröffnung der Weltausstellung durch den Kaiser, rückte immer näher, aber das Wetter blieb naßkalt und machte alle Hoffnungen zunichte, das Jahrhundertwerk rechtzeitig zu vollenden. Dampfbagger hatten die gesamte Anhöhe des Trocadero vor dem Marsfeld abgetragen und mit der Erde den Ausstellungspark eingeebnet. Riesige Walzen fuhren von früh bis spät zischend und schnaubend auf und ab, um den Untergrund, die Straßen und Gehwege fester zu machen. Die ersten fertiggestellten Pavillons bekamen bereits Risse, die Fundamente versanken im Morast. Aber das Chaos auf dem Ausstellungsgelände wie in der Stadt, wo die immer zahlreicher anreisenden Aussteller nach einer Bleibe suchten, paßte irgendwie zu dieser Stadt, und niemand regte sich darüber auf. Die Pariser fühlten sich als Mittelpunkt der Welt. Die politische Lage war gespannt, manche Zeitungen orakelten sogar, die Weltausstellung könne vielleicht gar nicht eröffnet werden, weil ein Konflikt zwischen Preußen und Frankreich nicht mehr zu vermeiden sei. Nach Preußens Erfolgen gegen Österreich war der König der Niederlande an Napoleon III. herangetreten und hatte ihm Luxemburg angedient, wenn er die niederländische Souveränität garantiere. Dem aber wollte Preußen nicht zustimmen. Schließlich bahnte sich als politische Lösung die Neutralisierung Hollands an. Und Emile de Girardin, der populärste Pariser Publizist, der am lautesten mit dem Säbel gerasselt hatte, rückte in sein Blatt wieder Haute-Cuisine-Rezepte des legendären Baron Brisse, Cotelettes, Omelettes, Trüffel, Fasanen und Pastetchen ein und bot die gesammelten Anregungen des Freßbarons seinen Abonnenten als Prämie. Girardin, der seine Zeitungen billiger und bunter gestaltete als seine Konkurrenten, brachte sogar den altehrwürdigen Figaro dazu, die täglichen Speisebulletins »Causeries du Baron« in das Blatt zu nehmen.
Statt feindlicher Soldaten überschwemmte in diesen Tagen ein Heer hübscher Ballettmädchen die Stadt. Sie kamen mit der Eisenbahn auf dem Gare du Nord an, blieben ein, zwei Tage in Paris, und manche von ihnen reisten dann nach Le Havre weiter. Die Mitglieder des Jockey-Clubs konnten sich den plötzlichen Massenandrang von so viel Weiblichkeit nicht erklären, bis Henri de Pene das Geheimnis lüftete: Ein amerikanischer Theaterdirektor, der im Vorjahr mit einem Musikspiel in New York 600000 Francs verdient hatte, suchte Mädchen für seine neueste Produktion La Biche au Bois, und sein Agent hatte in Paris ein Anwerbungsbüro eröffnet, in dem die Mädchen Brüste und Beine zeigen mußten. Oft standen hundert Biches in der Schlange vor dem Büro, angereist aus London, Berlin, Petersburg, Odessa und Konstantinopel, und nicht selten war die Enttäuschung der abgelehnten Mädchen so groß, daß sie sich in die Arme irgendeines Mannes stürzten, dem sie nachts »au Gaz«, »im Laternenschein«, auf dem Montmartre begegneten. Brugsch und Mariette passierten die Schlange in einer Droschke, die sie von Poissy, wo der Direktor eine Villa mit Garten und zugehörigem Personal gemietet hatte, zum Marsfeld brachte. Droschken waren, seit Paris von Fremden überschwemmt wurde, Mangelware, und die Kutscher, die, mit gelber Nummer versehen, einspännig bisher i Franc 50 bekamen, verlangten nun das Doppelte, die vornehmeren rot nummerierten ließen sich am Sonntag eine Fahrt im Bois de Boulogne sogar mit 25 Francs honorieren. »Würdest du«, fragte Mariette beim Anblick der hübschen Mädchen Heinrich Brugsch, »würdest du noch einmal heira--ten wollen?«
Der Deutsche blickte mißmutig vor sich hin und fragte schließlich: »Und du?«
»Eleonore war eine wunderbare Frau«, sagte Mariette, »ich glaube nicht, daß man sie ersetzen kann.« »Pauline hat mich verlassen«, sinnierte Brugsch, »und manchmal kann ich es ihr gar nicht verdenken. Ich glaube, Männer wie wir taugen nicht für die Ehe.« Mariette schwieg und betrachtete mit Interesse die entgegenkommende Equipage oder besser die vornehme Dame darin, sie kam gewiß aus dem Quartier St. Germain und war eine mexikanische Witwe - so nannte man die aufgeputzten Kokotten. In Begleitung rot und blau gefärbter Pudel beklagten diese Damen gern ihr ungewohntes Alleinsein, der Herr Gemahl sei im Krieg geblieben, wissen Sie. »Die Kerle in der Droschke hinter uns verfolgen uns seit Poissy«, brummte Mariette. »Ich kann mich irren, aber mir ist, als hätte ich die Gesichter schon einmal gesehen.« Brugsch blickte sich um und hob die Schultern. »Paris«, sagte er plötzlich, »wie hast du dich verändert. Wo sind die schattigen Wege der Champs-Elysees? In Boulevards und Hotels haben sie sich verwandelt, Steine, Gerüste, Kalkgruben, Lieferkarren und Lärm. Das Paris der beiden Kardinale, der Klassiker und des großen Monarchen . . .« Der Franzose antwortete mit einem Seufzer: »Paris brauchte 1850 Jahre, um eine Million Einwohner zu erreichen, aber für die zweite Million brauchte die Stadt nur noch sechzehn Jahre. Paris ist nicht gewachsen, Paris ist explodiert. Neubauten, soweit das Auge reicht. In vierzehn Jahren wurden 17000 alte Häuser eingerissen und neu aufgebaut. Kannst du dir das vorstellen, Henri? Die Pariser sind nahezu süchtig nach neuen Bauten. Sie wohnen heute lieber im fünften Stockwerk als ohne Gas und Wasser.« Die Droschke bog zum Pont d'Jena ein, und das Pferdchen begann zu traben. Auch der Kutscher hinter ihnen beschleunigte seine Fahrt. Das Marsfeld war eingerahmt von zahllosen Bretterbuden und Baracken, primitiven Restaurants und Büffets, in denen sich Tausende von Bauarbeitern aus aller Welt nach Art ihres Heimatlandes verköstigten. Fremde Düfte, exotische Gerichte und nie gehörte Namen bestärkten die Pariser in dem Verdacht, hier würden Hunde und Katzen zerhackt und zerkleinert als Delikatessen serviert.
Mariette bezahlte den Droschenkutscher, und die beiden strebten von der Porte Rapp dem ägyptischen Areal zu. Dabei passierten sie den französischen Ausstellungsteil, der die Hälfte des gesamten Parks für sich in Anspruch nahm und kaum weiter gediehen war als die Pavillons der ausländischen Aussteller, die sich daran anschlössen. Die Rue de Flandre und die parallel zu ihr verlaufende Rue de France führten geradewegs auf den Jardin Central, wo der Industriepalast seiner Vollendung entgegenging, eine gigantische Eisenkonstruktion, dreischiffig, eine moderne Basilika, allein das Mittelschiff 236 Meter lang, 80 Meter breit und 40 Meter hoch, in dreifacher Ausdehnung, beinahe doppelt so groß wie Notre-Dame. Dahinter arbeiteten die Ausländer an ihrer Selbstdarstellung: Zur Linken die Niederlande und Belgien, anschließend Preußen, Süddeutschland, Österreich, die Schweiz, Spanien, Portugal, Rußland, Italien, der Kirchenstaat, die Donau-Fürstentümer, Türkei, Siam, China und Ägypten.