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Die Chinesen legten letzte Hand an ihr Theater, von den Russen wurden malerische Wohnhäuser errichtet, das Badehaus der Türken war bereits fertiggestellt, und im Park der Österreicher standen zwei riesengroße Lokomotiven von Fink und Sigl in Wien. In einem eigenen Pavillon präsentierten die Österreicher eiserne Geldschränke der Firma Wertheim sowie eine original Wiener Bäckerei. Zwischen ratternden Maschinen, auf- und abrollenden Dampflokomobilen, kreischenden Sägen und lärmenden Dampfhämmern stand der Pylon, durch den man den ägypti-

sehen Ausstellungsteil betrat, recht fremdartig in der Landschaft. Einzig das Minarett der türkischen Moschee auf der anderen Straßenseite, dessen goldener Halbmond weit sichtbar in den Himmel ragte, vermittelte den Eindruck, daß neben der Industrie auch die Kultur als ausstellungswert galt. Die Allee der gewaltigen Sphingen, die zu dem Tempel führte, war frühzeitig mit Steinplatten ausgelegt worden und hatte dem Regenwetter der vergangenen Wochen erfolgreich getrotzt.

»Sieh doch, Henri«, sagte Mariette und stieß Brugsch in die Seite, »die Kerle verfolgen uns immer noch!« Der Preuße meldete Zweifel an, ob es sich um die beiden Männer aus der Droschke handelte. Von weitem sähen neunzig Prozent aller Männer gleich aus.

Im Innenraum des Tempels, der bis auf unbedeutsame Details fertig war, verlegten Arbeiter Gasleitungen für die Beleuchtung. Mariette korrigierte die einzelnen Standorte der Lichtquellen, zeichnete rote Kreuze an die Wand und besprach mit dem französischen Vorarbeiter die Pläne. Daß Heinrich Brugsch auf einmal verschwunden war, störte ihn zunächst nicht, dachte er doch, der preußische Freund habe sich wegen seiner Geschäftigkeit aus dem Staube gemacht, um die Kanone von Krupp in Essen zu begutachten, die tags zuvor auf dem Schienenwege eingetroffen war, ein Ungetüm von tausend Zentnern für Pulverladungen von tausend Pfund. Doch dann dämmerte der Abend, auf dem Marsfeld blinkten die ersten Lichter auf, beleuchteten phantastische Architekturen, bildeten Lichtstränge, Flammengürtel um haushohe Maschinen. Nun begann Mariette sich doch Sorgen zu machen. Seit die Zeitungen über den Goldschatz der Königin Ahotep berichtet hatten, fühlte er sich verfolgt. Nur zwei Männer, so war zu lesen, wüßten, wo der Schatz in Paris lagere: Auguste Mariette und Heinrich Brugsch. Paris quoll in diesen Tagen der Eröffnung der Weltausstellung auch von zwielichtigem Gesindel über, das von dem bevorstehenden Ereignis angezogen wurde. Nie gab es so viele Taschendiebe, Zuhälter und andere Verbrecher in dieser Stadt. Sollte Brugsch das Opfer einer Entführung geworden sein?

Im Dunkel des Tempels erkannte Mariette eine schmächtige Gestalt; doch noch ehe er irgend etwas sagen konnte, löste sich die Gestalt aus dem Schatten, trat auf ihn zu, ein junger Mann von vielleicht zwanzig Jahren. »Entschuldigen Sie, Monsieur«, sagte der Jüngling, »ich habe lange auf diesen Augenblick gewartet, seit meinem vierzehnten Lebensjahr träume ich davon, Ihnen einmal zu begegnen . . .« »Und was versprechen Sie sich von dieser Begegnung?« fragte Mariette. Der junge Mann antwortete: »Ich habe so viel von Ihnen und Ihren Entdeckungen gehört, daß es für mich nur den einen Wunsch gab, ein Altertumsforscher zu werden, so wie Sie!«

Mariette strich über seinen Bart, runzelte die Stirn und knurrte: »So ist das also.«

»Ich heiße Gaston Maspero«, sagte der junge Mann, »meine Eltern stammten aus Milano, ich bin aber in Paris geboren, habe das Gymnasium besucht und beschäftige mich seitdem mit ägyptischer Geschichte, vor allem mit der Entschlüsselung von Hieroglyphen-Texten.« »Und mit welchem Erfolg?«

»Ich kann heute jeden Text ohne Schwierigkeiten lesen.« »Dann sind Sie erfolgreicher als ich«, antwortete Mariette, »mir bereiten Hieroglyphen-Texte bisweilen großes Kopfzerbrechen.«

»Wenn ich Ihnen nur einmal behilflich sein könnte .. .« Mariette sah den jungen Mann mißtrauisch an. Er machte durchaus nicht den Eindruck eines Phantasten. »Wissen Sie was, Gaston«, sagte er nach einer Weile, »begleiten Sie mich nach Poissy, ich wohne dort und würde Ihnen gerne zwei Textabschriften geben. Da dürfen Sie dann zeigen, was Sie können.«

»Ich danke Ihnen, Monsieur«, rief Maspero begeistert und versuchte, die Hand Mariettes zu fassen. »Schon gut«, sagte der, »kommen Sie, wir versuchen, eine Droschke zu bekommen.«

Die Boulevards der Stadt erstrahlten im Lichterglanz. 40000 Gaslaternen gab es in Paris, endloser Goldflitter, betörend für die Fremden aus aller Welt. Jetzt kam die geheiligte Stunde des Diners. Nicht die zahlreichen Restaurants mit prix fixe von zwei bis fünf Francs, auch nicht die vielen ausländischen Gastronomiebetriebe wie das Petersche amerikanische Restaurant oder das deutsche Zöhls in der Rue de Rougemont, dicht am Boulevard Poissonniere, waren das Ziel der Pariser Gourmets, sondern Restaurants erster Klasse wie das Maison doree, das Cafe de Foy, das Cafe Riche oder - natürlich - das Cafe Anglau am Boulevard des Italien und die Freres Provenfaux im Palais Royal. Hier speiste man, nein, man tafelte zwischen Spiegeln, Gasflämmchen und Appliquen an langen Tischen mit weißen Tischdecken, die oft bis zum Boden reichten und die Arbeit der Biches erschwerten, die mit den kleinen Mignon-Füß-chen ihr Gegenüber zu ertasten suchten. Und manch ein Fremder, der eines dieser noblen Etablissements mit wohlgefüllter Brieftasche betrat, um den eigenen Hunger zu stillen und um über Bismarck oder Palmerston zu diskutieren, sah sich unvermittelt einer dieser Biches gegenüber, konnte ihr den Wunsch nach Austern und Trüffeln nicht abschlagen und verausgabte sich völlig, wenn er nicht gar im Schuldgefängnis von Clichy landete.

»Ich mache mir Sorgen um meinen Freund Heinrich Brugsch«, sagte Mariette, während die Droschke über den Pont d'Jena rollte, »er ist verschwunden.« Warum er sich sorgte, sagte Mariette nicht. Gaston Maspero versuchte sein Gegenüber zu beruhigen, gewiß habe er sich bereits nach Hause begeben. Doch diese Hoffnung war trügerisch.

Die Mädchen in der Salle Valentine warfen die Beine schneller empor, als das Orchester auf dem goldumrankten Podium spielen konnte. Sie rissen ihre roten Röcke hoch und ließen nur allzugerne ihre fleischfarbenen Trikots blitzen, was als weit frivoler galt als das Herzeigen des mit Rüschen besetzten Höschens. Dabei stießen sie hohe Schreie aus. Vor vierzig Jahren war dieser Cancan noch ein angenehmer Gesellschaftstanz, aber Tänzerinnen wie die Rigolboche hatten daraus eine Vorführung gemacht, ganz Paris war inzwischen süchtig nach Cancan. Früher, als die Zeit noch anständig war, gab es in jedem Tanzlokal einen Sergeant, der einer in Ekstase geratenen Grisette auf die Schulter klopfte und leise »premiere fois« sagte. Ein zweiter Tupfer, und sie mußte das Lokal verlassen. Aber das war lange vorbei. Heinrich Brugsch dämmerte in einer Ecke des tobenden Lokals vor sich hin und starrte, wenn die Sicht es gerade zuließ, unter die Röcke der wilden Tänzerinnen. Vor ihm stand bereits der fünfte Absinth. Er hatte Mühe, die Augen offenzuhalten, als ein kleines zierliches Mädchen mit einer roten Schleife im blonden Haar von hinten an ihn herantrat, die Hände vor seine Augen hielt und keck fragte: »Kuckuck, wer bin ich?«

Der Preuße zog die kleinen Porzellanfingerchen vom Gesicht und drehte sich um: »Nee, nicht mit mir, Mademoi-selle«, sagte er mühsam.

Das Mädchen lachte laut: »Aber det jiebt es ja nicht, du bist wohl auch aus Berlin, wa?«