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Der heimische Dialekt wirkte auf Brugsch ernüchternd, er riß sich zusammen, versuchte sich höflich zu erheben, und brummelte mit einer angedeuteten Verneigung: »Johannisstraße, jawoll.«

»Wedding, anjenehm«, antwortete die Kleine und fügte artig hinzu: »Ich heiße Tildchen.«

»Na, laß man, Tildchen«, meinte Brugsch, »geh man lieber an 'n Nebentisch. Ich bin froh, wenn ich meinen eigenen Absinth bezahlen kann.«

»Wat denn«, gab das Blondchen zu bedenken, »siehst aber jarnicht so aus, könntest richtig was Besseres sein, wa?« »Was Besseres!« Brugsch lachte gequält. »Vielleicht bin ich sogar was Besseres. Aber leben kannst du davon nicht!« »Na sach doch mal, wat machste denn?« »Privatdozent«, antwortete Brugsch und wagte nicht einmal aufzusehen.

Das Mädchen verzog das grellgeschminkte Gesicht, als hätte der Mann gerade etwas besonders Ekelhaftes von sich gegeben; dann bemerkte sie: »Ach du grüne Neune, so sieh-ste aber jarnich aus. Hast wohl och 'n Doktor, wa?«

Brugsch nic kte.

»Na, mußt dir ja nicht gleich schämen«, versuchte Tildchen zu trösten, »von wegen dem Doktor, kannst ja trotzdem ein janz anständiger Mensch sein .. .« »Nur daß man vom Anstand so schlecht leben kann«, meinte Brugsch und rief: »Garcon, einen Absinth für Made-moiselle!«

»Nee, nee, laß man«, wehrte das Blondchen ab, »von 'nem armen Akademiker nimm ich nischt, wa.« »Laß man gut sein«, antwortete Brugsch, und Tildchen nahm neben ihm Platz: »Na, denn bin ick halt so frei.« Brugsch sah die Kleine zum erstenmal richtig an. Hübsch war sie, eigentlich viel zu hübsch. »Suchst wohl nach einem Freier?« fragte er schließlich. Tildchen entrüstete sich: »He, wat soll'n det. Ick bin nich so eene, wie du denkst, vastehste! Ich bin hier auf Arbeitssuche von wegen det Ballett.« »Und?«

»Nu nischt. Nich genommen haben sie mir von wegen meine Titten, war ihnen zu wenig, wa.« »Und nun?«

»Nu fahr ick wieder nach Hause und geh in die Knopffabrik. Und du?«

Brugsch hob die Schultern. »Ich arbeite auf der Weltausstellung beim Aufbau des ägyptischen Tempels. Der Tempel steht nun, und in ein paar Tagen sitze ich wieder auf der Straße.«

»Wat denn, du als Akademiker?« - Tildchen sprach das Wort mit mindestens drei i.

»Ach, weißt du, Kleine, wenn du mit 40 noch nicht Boden unter den Füßen hast, dann schaffst du es nie mehr. In jungen Jahren habe ich mich als Ausgräber in Ägypten rumgetrieben, für Ehre und Vaterland und für die Wissenschaft, dann war ich Konsul in Kairo - nur für die Ehre, habe mein letztes Erspartes ausgegeben, und nu bin ich froh, wenn ich irgendwo einen Vortrag halten kann oder vielleicht einen

Forschungsauftrag bekomme. Das ist das Schicksal eines preußischen Akademikers.«

»Armer Kerl«, versuchte Tildchen den weinerlichen Doktor zu trösten, »wat nich is, kann ja noch werden. Biste verheiratet?«

Heinrich Brugsch schwieg.

Das Blondchen dachte nach. »Ach, so is det.« Und nach einer Weile: »Haste 'ne Bude?«

»Nein, Mädchen«, antwortete Brugsch, »ich kann dich nicht mitnehmen, ich wohne in Poissy bei einem Freund in einer hochherrschaftlichen Villa mit Stubenmädchen und Köchin.«

»Ick verstehe.« Tildchen nickte. »Von wegen die Conte-nance, wa. Kannst ja mit mir mitkommen, wenn du willst. Ne Villa ist es nich, aber ne schnuckelige Herberge im Quartier Lateng. Mußt halt dem Portier 'nen Franc extra geben.« »Garcon«, rief Brugsch, »noch zwei Absinth!«

Für Mariette war klar, daß Brugsch das Opfer einer Entführung geworden war. Irgendwelche Gangster wollten ihn erpressen, damit er den Aufbewahrungsort des Pharaonenschmucks verriet. In dieser Nacht tat der Franzose kein Auge zu. Er beschloß, am nächsten Morgen auf jeden Fall die Polizei einzuschalten.

Doch am nächsten Morgen entstieg Dr. Heinrich Brugsch vor der Villa in Poissy einer Droschke und erklärte dem bestürzten Freund, er habe seinen Katzenjammer eine Nacht lang in Absinth ertränkt. Mariette begriff sofort die Ursache dieses Stimmungstiefs. Die Vorbereitungen der Weltausstellung waren beendet, Brugsch war praktisch arbeitslos. Mariette bat deshalb Emmanuel de Rouge, Professor am College de France, Konservator am Louvre und im Rang eines Staatsrates, um eine Unterredung. Der Graf kannte Brugsch seit frühester Jugend. Er hatte ihn sogar in Berlin besucht, als ihn die Kunde erreichte, ein Wunderknabe schreibe an einem Lehrbuch der ägyptischen Sprache. Die Begegnung war herzlich.

Brugsch solle, schlug der Professor vor, an seinem College Vorträge über demotische Schrift und Literatur halten, dafür wolle er ihm seine Besoldung als Professor, immerhin 12000 Francs im Jahr, abtreten. Das Einverständnis Kaiser Napole -ons vorausgesetzt, solle Brugsch damit eine Lebensstellung verschafft werden. Die Zukunft des Preußen schien gesichert.

Auf Vermittlung Madame Cornus, einer Milchschwester des Kaisers, Erzrepublikanerin zwar, aber ständiger Gast beim kaiserlichen Abendtee, wurde Heinrich Brugsch zu einer Audienz gebeten. Napoleon stand in einer Fensterecke, redete in deutscher Sprache und stellte Fragen über Leben und Schicksal des Forschers, bevor er auf sein Lieblingsthema, Julius Cäsar und die Eroberung Alexandrias, zu sprechen kam. Schließlich erklärte er, er werde Heinrich Brugsch bereits nach einjährigem Aufenthalt in Frankreich die französische Staatsbürgerschaft erteilen. Im Normalfall dauerte das zehn Jahre.

So glücklich Brugsch über das Angebot war, so sehr schreckte Brugsch die Schnelligkeit, mit der die Einbürgerung vonstatten gehen sollte. Er bat um zwei Wochen Bedenkzeit und reiste nach Berlin.

Am 1. April 1867 eröffnete Napoleon III. die Weltausstellung wie vorgesehen, obwohl die meisten Pavillons noch nicht fertig und viele Attraktionen nicht einmal ausgepackt waren. Und das Wunder geschah: Nach wochenlangem Regen schien plötzlich die Sonne. 55000 Besucher drängten sich tagtäglich auf dem Marsfeld, süchtig nach Sensationen, von denen es nicht wenige gab: Für einen Franc konnte man in Giffards »gefesselten Ballon« steigen. Sechzehn Personen bot die schwankende Gondel Platz. Eine Dampfmaschine mit zwanzig Pferdestärken zog die aussichtstrunkene Gesell-

Schaft an einem Drahtseil auf die Erde zurück. Schwindelig, sich übergebend, wankten die Menschen in höchster Erregung aus der Gondel, sie hatten das Gefühl erlebt, zu fliegen. Nicht ganz so hoch - aber doch aufregend genug - hievte der Edouxsche Aszensions-Apparat besonders Mutige auf das Dach des Industriepalastes, eine Art Fahrstuhl - die Treppe, so wurde lautstark prophezeit, habe im 19. Jahrhundert ausgedient, die Belle Etage werde künftig im vierten oder fünften Stockwerk liegen, mit Aszensionsapparat erreichbar. Weithin sichtbar und nachts seine Feuerzeichen in den Himmel schreibend, war der französische Leuchtturm zu besichtigen, der nach dem Ende der Ausstellung ab- und an den Klippen von Roche-Douvres in der Bretagne wieder aufgebaut werden sollte.

Der eigentliche Industriepalast, mit der Hauptfassade dem Pont d'Jena zugekehrt, überspannte in Form einer Ellipse -auf einem Gerippe aus Gußeisen bogenförmig eingedeckt mit Glas und gewalztem Zink - in gewaltiger Ausdehnung eine Gartenanlage mit Pflanzungen, Springbrunnen und eine Villa, in der Münzen und Gewichte verschiedener Nationen zur Schau gestellt wurden.

Man hätte meinen können, Mariettes ägyptischer Tempel und der orientalische Palast des Khediven wären von all den Wundern der Technik verdrängt worden, aber im Gegenteiclass="underline" Zwischen den Zeugnissen aufsehenerregenden Fortschritts und in die Zukunft weisenden Erfindungen war, wie schon erwähnt, der altägyptische Tempel mit dem Grabschatz der Königin Ahotep und den Mumien die eigentliche Sensation. Der Technik begegnete man inzwischen schon allerorten, aber Ägypten und seine Vergangenheit waren noch immer unerreichbar, faszinierend und exotisch. Die Menschen standen Schlange.

Der Anziehungskraft der Exposition erlagen ausländische Potentaten, Staatsmänner und gekrönte Häupter, der Zar von Rußland und der König von Preußen. Dann, eines Ta-