Letzteres betrachteten die Bewohner von Schech abd el-Kurna seit Generationen als ihr ureigenes Privileg, schließlich gab es sonst keinen vernünftigen Grund, dieses Dorf gerade hier in der Wüsteneinsamkeit zu errichten, und deshalb sahen sie es auch nicht gerne, wenn sich ein Gelehrter hierher verirrte. Und davon wurden es in letzter Zeit immer mehr. Achmed Abd er-Rassul wußte genau, daß die Götter vor eine Entdeckung den Schweiß gesetzt hatten; er war sich aber auch im klaren, daß die größten Entdeckungen der Archäologie kein Forscher, sondern der Zufall gemacht hatte. Und noch einen dritten Grundsatz kannte er: Jeder Felsvorsprung, jeder Sandhaufen und jede Geröllhalde - und mochten sie noch so unscheinbar erscheinen - konnten der Zugang zu einer unermeßlichen Schatzkammer sein. Es war daher kein Zufall, daß Achmed eines Morgens beschloß, die Klippen des Libyschen Gebirges zu erklimmen, an deren dem Nilufer zugewandten Abhang die Ruinen des Hatschepsut-Tempels liegen, während die Rückseite schroff zum Tal der Könige abfällt. Nur von der dem Tal der Könige zugewandten Seite waren diese Felsen zu erklimmen, und auch dann nur unter Lebensgefahr. Achmed schürfte mit einem knorrigen Stock im Geröll. Steine lösten sich unter jedem Tritt, polterten laut in das totenstille Tal. Erschreckt flogen ein paar Geier auf, die heiligen Vögel der Schutzgöttin Nechbet. Oben angekommen, hielt er inne, blickte nach Osten zum Horizont, wo diesig, milchig-gelb die Sonne aufging. Langsam löste sich der fruchtbar-grüne Uferstreifen des Nils aus dem Dunst, Luxor tauchte auf mit seinen Traumvillen und Märchenschlössern, Treffpunkt der High-Society aus aller Welt zur Winterzeit. Hier wurde Luxus zelebriert, Feste gefeiert wie in Tausendundeiner Nacht. Was dort an einem Abend verpraßt wurde, hätte ganz el-Kurna ein Jahr lang ernährt. Das Zen-
trum gesellschaftlichen Treibens war die Villa des Konsuls Mustafa Aga Ayat, wo Achmeds Bruder Mohammed als Die -ner beschäftigt war.
Ein Felsvorsprung erregte Achmeds Aufmerksamkeit; er hielt inne, überlegte. Es war weniger die Gefahr eines Absturzes, die ihn nachdenklich machte, als die Frage, ob auf dieser bedrohlichen Felsnase jemals ein Grab angelegt worden sein könnte. Achmed wurde klar, daß dies eigentlich unmöglich war - Grund genug, sich den Felsvorsprung genauer anzusehen.
Der Fels fiel 60 Meter senkrecht zum Tal ab. Ein falscher Schritt in dem brüchigen Gestein und - Achmed hielt erschrocken inne: Kein Zweifel, dort, eingerahmt von Felsbrocken, klaffte ein Loch im Fels, vielleicht zwei Meter breit. Vom Kamm des Gebirges war diese Höhle nicht einzusehen.
Vorsichtig ging Achmed zu dem Loch im Fels. Er blickte in einen unendlich tiefen Schlund. Als er einen Stein hinabwarf, klang der Aufschlag weit entfernt. Achmed wiederholte den Versuch, das Echo verriet einen größeren unterirdischen Raum. Bei Allah, was hatte er entdeckt? Ein Pharaonengrab? - wohl kaum. Achmed wußte zwar, daß die Gelehrten noch nach einer ganzen Reihe von Pharaonengräbern suchten, darunter nach den Gräbern Thut-mosis' III., dem der Königin Hatschepsut, dem des Haremhab und des Tut-ench-Amun; aber waren diese überhaupt hier bestattet worden? Diente das Tal der Könige allen Pharaonen der 18. bis 20. Dynastie als letzte Ruhestätte? Zudem lag die unheimliche Öffnung auf dem gefährlichen Felsvorsprung weitab hinter dem Tal der Könige. Ein Pharaonen-grab, das schien so gut wie sicher, war dies nicht. Was aber barg der geheimnisvolle Schacht? Vielleicht die letzte Ruhestätte eines exzentrischen Adligen, der hier für sich allein begraben sein wollte? Die Frage war nur: War er, Achmed, der erste, oder hatten andere das abgelegene Versteck schon vor ihm entdeckt? Würde es ihm so ergehen wie Giovanni Belzoni, der sich vor über 50 Jahren unter ungeheuerem Aufwand an Menschen und Material in das Grab Sethos' I. gewühlt hatte und dann eines Tages vor einem leeren Sarkophag stand?
Von einer inneren Unruhe gepackt, machte Achmed kehrt, kletterte aufgeregt die brüchige Felsnase hoch, tat einen unsicheren Blick zurück, ob der Grabeingang von hier wirklich nicht zu sehen war, und lief - nachdem er sich davon überzeugt hatte - zu dem schmalen Saumpfad hinab, der in einem weiten Bogen um die Felsgipfel herum nach el-Kurna führt. Achmed versuchte, seine Erregung zu verbergen, als er im Dorf ankam. Eine Entdeckung, das wußte er, war um so wertvoller, je weniger Leute davon wußten. Also ging er scheinbar gelassen nach Hause. Soliman spürte jedoch sofort, daß irgend etwas Ungewöhnliches in ihm vorging.
Er sah den älteren Bruder fragend an, als wollte er sagen: Du hast doch was?
Achmed grinste verschmitzt und stieß mit dem Zeigefinger in die Luft: »Oben auf den Klippen!« Soliman stutzte, dann fragte er ungeduldig: »Und?« »Nichts«, sagte Achmed, »ein Loch im Fels, mindestens zehn Meter tief.« Soliman schien enttäuscht. Auch er wußte natürlich, daß dies nicht der Eingang zu einem Pharaonengrab sein konnte. Die Gräber der Könige waren trotz unterschiedlicher Architektur allesamt nach dem gleichen Schema gebaut: Treppen führten zu drei hinteroder verwinkelt zueinander liegenden Korridoren, an die sich die eigentliche Grabkammer anschloß. Ein senkrechter Schacht hätte die Bestattungszeremonie, bei der sich die Priester mit der Mumie in die Sargkammer begaben, unmöglich gemacht. Doch wofür hatte man einen so tiefen Schacht angelegt? Gräber von Edelleuten, wie sie zu Hunderten in der Gegend gefunden wurden, hatten einen schlichten, vermauerten Zugang, hinter dem sich die Grabkammer auftat. Wer hatte also mit so hohem Aufwand, unter so außergewöhnlichen Umständen für die Ewigkeit vorgesorgt?
»Wir brauchen ein Seil, das mindestens 20 Meter lang ist, und ein paar Talglichter«, unterbrach Achmed die Gedanken seines Bruders. Nach eingehenden Beratungen kamen die beiden dann überein, sofort aufzubrechen. Zwei Männer, mit Grabungswerkzeugen ausgerüstet, fielen nicht weiter auf in el-Kurna - das ganze Dorf ging dem Gewerbe der Grabräuberei nach. Deshalb konnten Achmed und Soliman die Felsklippen erreichen, ohne Aufsehen zu erregen.
Während Soliman die Hände schützend über die Augen hielt und angestrengt in den Schacht starrte, prüfte Achmed die in der Nähe herumliegenden Felsblöcke, ob einer von ihnen wohl genügend Halt böte, um das Hanfseil herumschlin-gen zu können, an dem sich Achmed in die Tiefe hinabgleiten lassen wollte - ein Unterfangen, das selbst für einen Mann wie Achmed, der nicht an die Geister der Verstorbenen glaubte, Gefahren barg.
Schlangen und Skorpione trieben in vielen Gräbern ihr Unwesen, und groß war auch die Angst der Grabräuber vor Giften und Fallen, die von den Priestern vor Jahrtausenden ausgelegt worden waren. Immer und immer wieder bezahlten Grabräuber ihr Treiben mit dem Leben. In Sakarra, der Totenstadt von Memphis, 400 Kilometer nilabwärts, mußten Archäologen einst einen tonnenschweren Stein, der aus einem unterirdischen Gewölbe herabgestürzt war, hochwuchten. Erst dann war der Zugang frei zu einer kunstvollen Grabkammer, in der zwei menschliche Skelette lagen, keine Mumien - wohlgemerkt. Nach eingehenden Untersuchungen fanden die Archäologen heraus, daß zwei Grabräuber beim Betreten der unterirdischen Stätte einen Mechanismus ausgelöst hatten, der den Steinkoloß von der Decke fallen ließ. Die beiden waren elend umgekommen. Mit solcherlei Schutzmaßnahmen vor Räubern statteten die altägyptischen Grabbauer viele Grüfte aus. Sie legten Fallgräben an, die nur mit Brücken zu überqueren waren -die nach der Bestattung der Könige abgebrochen wurden -, sie gruben Irrgänge, konstruierten Scheintüren und bauten Kammern, die wie Grabkammern aussahen - die eigentliche Grabkammer des Königs lag jedoch in entgegengesetzter Richtung.
All das komplizierte zwar die Arbeit der Einbrecher, verhindert wurde sie dadurch nicht. Die Gier nach Gold, die Aussicht, mit einer einzigen Entdeckung ein Leben lang ausgesorgt zu haben, setzte unglaubliche Energien frei, ließ tödliche Risiken vergessen. So auch bei den Brüdern Abd er-Rassul.