Achmed hatte das eine Ende des Seiles um einen Felsblock geknotet, das andere band er sich um die Brust, dann ließ er sich rücklings in die Felsröhre und kletterte vorsichtig, sich mit Armen und Beinen einspreizend, in das Ungewisse Dunkel hinab.
Das ging langsam, unendlich langsam. Soliman, der das Tau durch seine Hände gleiten ließ, blickte vorsichtig um sich. Es war weniger die Angst vor einer Streife der Altertümerverwaltung, die ihn sichtlich nervös machte, als die Furcht, von anderen Dorfbewohnern entdeckt zu werden; denn das hätte Teilen der Beute bedeutet. Die Aufpasser Mariettes waren zwar mit Flinten bewaffnet, doch die Bewohner von el-Kurna spielten mit ihnen Katz und Maus. Ihr Warnsystem funktionierte perfekt: Jedesmal wenn eine Streife, von Luxor kommend, im Fährboot den Nil überquerte - sie nahm nie einen anderen Weg -, setzte sich eine Stafette nach el-Kurna und weiter bis zum Tal der Könige in Bewegung; die Grabungs- und Suchtrupps stellten ihre Arbeit ein, rannten nach Hause und boten, wenn die Ordnungshüter ankamen, Ziegen melkend und Körbe flechtend, ein beschauliches Bild oberägyptischen Landlebens.
Die Zeit, in der Grabräuber mit dem Tode bestraft wurden, lag weit zurück. In pharaonischer Zeit gab es Grabräuber-Prozesse, deren Protokolle, auf Papyrusrollen geschrieben, im Wortlaut erhalten sind. So auch das klägliche Geständnis von acht Steinmetzen und Tempeldienern, die während der 20. Dynastie, etwa 1100 Jahre vor Christus, unter Peitschenhieben zu Protokoll gaben: Sie seien in die Pyramide des Königs eingedrungen, hätten den Sarkophag aufgebrochen und die Mumie des Pharaos herausgeholt. Der tote König sei über und über mit Amuletten und Schmuckstücken aus Gold bedeckt gewesen, und auch die Mumiensärge hätten außen und innen Gold- und Silberüberzüge getragen. Die Einbrecher hätten alles Gold und Silber abgerissen und später in acht Teile geteilt.
Der Prozeß endete mit einer achtfachen Hinrichtung.
Wie gesagt, der am Rande des Felsenschachtes stehende Achmed fürchtete weit weniger den Arm des Gesetzes als die Entdeckung durch eine rivalisierende Grabräuberbande. In solchen Fällen kam es nicht selten zu Schießereien, bei denen der Schwächere im Grab zurückblieb - als Leiche. Achmed war indes auf der Schachtsohle angelangt. Zehn bis zwölf Meter tief mochte die senkrecht in den Fels führende Röhre sein. Es war stockdunkel. Er band das um die Brust geschlungene Hanfseil ab und zog aus seiner Unterkleidung, die nur aus einem zwischen den Beinen und um die Hüften geschlungenen Fetzen Stoff bestand, ein Talglicht. Im flackernden Kerzenschein versuchte er sich zu orientie -ren. Der Raum war eng, zwei Meter Durchmesser, nicht größer als der Einstieg.
Vorsichtig, als könnte er das Ganze zum Einsturz bringen, tastete Achmed die Felswände ab. Die eine Seite des Schachtes wies deutlich eine Mauerstruktur auf. »Soliman!« schrie Achmed nach oben, wo ein kleiner Lichtpunkt zum Himmel wies, »zieh das Seil hoch und laß das Brecheisen herunter. Aber vorsichtig, hörst du!« Soliman zog das Tau nach oben, band die eineinhalb Meter lange Brechstange, wichtigstes Requisit aller Grabräuber, am einen Ende des Eisens fest und ließ das Werkzeug behutsam in den Schacht hinab. Ein gefährliches Unterfangen: Die baumelnde Brechstange konnte leicht einen Stein aus dem brüchigen Fels schlagen, Achmed hatte kaum eine Chance, dem herabstürzenden Felsbrocken auszuweichen. Aber es ging gut. Mit der bei zahllosen Versuchen erworbenen Routine ging Achmed ans Werk, lockerte behutsam den ersten Block, indem er die Brechstange immer wieder in dieselbe Mauerfuge rammte. War erst einmal ein Stein lok-ker, folgten die übrigen wie von selbst. Er arbeitete verbissen, die Luft wurde knapp. Was würde sich hinter dieser Mauer verbergen? Das Gold eines Pharaos oder nur das armselige Knochengerüst irgendeines bedeutungslosen Ägypters?
Das am Boden brennende Talglicht verbreitete ein so diffuses Licht, daß Achmed die Mauerfuge, die er mit größter Kraftanstrengung bearbeitete, gar nicht richtig sehen konnte; er fühlte nur, wenn das Brecheisen traf; ein Rammstoß nach dem anderen, gleichmäßig wie eine Maschine. Da - ein Rumpeln verriet: Er hatte es geschafft, der Mauerstein war locker.
Mit Bedacht, als nähme er eine Schmuckschatulle aus dem Safe, hob Achmed den Stein aus dem Gemäuer. Er äugte durch das schwarze Loch, erkannte nichts, nahm die Kerze, hielt sie davor, aber sosehr er seine Augen auch anstrengte -es war nichts zu sehen.
Also machte er sich daran, weitere Steine herauszubrechen. Es dauerte nun nicht mehr lange, und in der Wand klaffte ein Loch, gerade groß genug, um sich durchzwängen zu können. Achmed nahm das Talglicht, steckte es hindurch, ein Korridor wurde sichtbar, knapp eineinhalb Meter breit, aber nur etwa 80 Zentimeter hoch, er stieg hinein. Der niedrige Gang, den Achmed auf allen vieren krie -chend, die Kerze vor sich herschiebend, hinter sich brachte, war etwa sieben Meter lang, dann vergrößerte er sich nach oben und machte eine jähe Biegung nach links, um sich in der Dunkelheit zu verlieren.
Achmed konnte jetzt wieder aufrecht gehen. Behutsam setzte er einen Schritt vor den anderen, farbloser Staub wirbelte auf, drang in Nase und Augen, machte das Atmen noch schwerer. Achmed tappte, die Kerze weit von sich gestreckt, durch den endlos scheinenden Korridor. Er hielt eine Hand vor das Licht, um die vor ihm auftauchenden Schemen besser erkennen zu können.
Vermeintliche Türen, schattenhafte Gestalten erwiesen sich beim Näherkommen als kantige Felsvorsprünge. 30 Meter mochte er so hinter sich gebracht haben. Hier, tief im Felsengebirge von Der el-Bahari, erschien es ihm, als sei er seit Stunden unterwegs. Immer die Ungewißheit, die Angst, der
Boden könnte sich öffnen, ihn verschlingen, die Wände könnten einstürzen, ihn begraben, ein gewaltiger Steinblock könnte aus der Decke stürzen, ihn zermalmen. Aber dann tauchten in seiner Phantasie Gold, Juwelen, kostbare Gefäße auf - wohin in aller Welt führte dieser endlose Gang, wohin? War er in eine Falle geraten, die pietätvolle Grabbauer vor Jahrtausenden angelegt hatten? Oder war dies der Weg zum größten Coup seines Lebens? Achmed hielt inne.
Bei Allah, da lehnte wenige Meter vor ihm, grauenhaft erhellt vom Flackerschein der Kerze, eine Gestalt an der Felswand. Verwirrt wischte sich Achmed über die Augen, hielt die Kerze hoch, daß die Schlagschatten der Gestalt sich verkürzten: Es war eine Mumie, die da an der Wand lehnte, eine senkrecht stehende Mumie in ihrer aus Holz geschlagenen Hülle.
Ihm blieb gar nicht die Zeit, die menschliche Hülle eingehend zu betrachten, denn dahinter im Schatten tauchte ein geöffneter Sarkophag auf. Er hielt sein Talglicht über den Rand und schrak zurück. Hier lag eine weitere menschliche Gestalt mit über der Brust gekreuzten Armen, kostbarer Schmuck umgab die zusammengeschrumpften Glieder, ein Schild auf der Brust trug für ihn unleserliche Hieroglyphen. Achmed blickte auf, seine Augen bohrten sich in den dunklen Raum. Was er sah, ließ ihn in seiner Erregung an seinem Verstand zweifeln, er rang nach Luft. Nicht zwei Mumien waren da in der Dunkelheit zu erkennen, sondern zehn, zwanzig, dreißig, vielleicht mehr, manche in vollem Ornat, andere ihrer kostbaren Bekleidung beraubt, verzerrte Fratzen, edle Gesichter mit der Uräusschlange auf der Stirn, dem Symbol des Pharaos.
Das war für den Eindringling zuviel. Er, der die inzwischen ausgeraubten Pharaonengräber im Tal der Könige wie seine Hosentasche kannte, dem keine Höhle zu eng, kein Irrgang zu tief war - jetzt im Anblick der zigfachen Sterblich-keit, versagten seine Nerven. Achmed machte kehrt, hastete im Staub des Korridors zurück zum Einstiegsschacht, zwängte sich durch den niedrigen Kriechgang, bekam das herunterhängende Tau zu fassen. »Soliman!« schrie er, während er sich das Ende um die Brust band, »Soliman, zieh mich hoch!«