Völlig entkräftet, sich m die enge Felsröhre einspreizend und unterstützt vom Zugseil des Bruders kam Achmed dem immer greller werdenden Tageslicht näher. Er fiel wie ein Sack über den Rand des Schachtes und blieb, die Augen schließend, reglos liegen. »Soliman«, stammelte er immer wieder, »ich habe Gespenster gesehen, Gespenster!« Der verstand seinen Bruder zuerst nicht; aber als er den einen Satz immer wieder hervorstieß, begriff er allmählich, daß er sich nicht verhört hatte. Er rannte so schnell er konnte den Felshang hinauf und blieb dort, den immer noch erschöpft am Boden liegenden Bruder beobachtend, in sicherer Entfernung sitzen.
Soliman wußte, daß Achmed sich keinen Scherz erlaubte, er wußte auch, daß er kein Hasenfuß war. Wenn Achmed vor Angst zitterte, dann mußte das einen schwerwiegenden Grund haben.
Achmed erhob sich. Auch durch heftiges Winken konnte er seinen Bruder nicht dazu bewegen, zurückzukommen. Schließlich rollte er das Seil auf und machte sich auf den Weg. Soliman kam ihm zögernd entgegen. Im Gehen erzählte Achmed, was er gesehen hatte. Soliman schüttelte nur mit dem Kopf.
Ob es Pharaonenmumien gewesen seien, die er dort unten gesehen habe? fragte der Jüngere.
Ja, antwortete der Bruder, er glaube schon, einige trugen die Königsschlange um die Stirn, nur Königen sei dieses
Symbol der Macht erlaubt gewesen.
Aber gleich mehrere Könige in einem einzigen Grab?
Achmed zuckte mit den Schultern. Er wußte auch nicht, was er davon halten sollte. Mehrere Könige in einem Grab, das hatte es bisher nicht gegeben. Mariette hatte schon zahlreiche Massengräber entdeckt, aber die Toten, die darin lagen, waren meist nicht einmal mumifiziert worden, von Schmuck und kostbaren Grabbeigaben keine Spur. Was hatte es mit diesem pharaonischen Massengrab für eine Bewandtnis ?
Wäre Mariette oder ein anderer Forscher auf diesen Fund gestoßen, sie hätten das Rätsel schnell gelöst; denn aus Papyrus-Funden kannten sie die sonderbaren Umstände - nur das Versteck kannten sie nicht.
Vor mehr als 3000 Jahren regierte in dem Land am Nil der Pharao Ramses III., ein schwacher König. Er mußte sich gegen ständige Angriffe fremder Völker wehren, im eigenen Land machten sich Zerfallserscheinungen bemerkbar, Kriminaldelikte häuften sich. Durch das Tal der Könige, wo die Felsengräber der Pharaonen im Fels versteckt waren, zogen Räuberbanden. Ein Grab um das andere wurde ausgeraubt. Selbst Wachpatrouillen konnten dies nicht verhindern, sie wurden kaltblütig ermordet. Die Priester des Amun, einst mächtig als Hüter des Lebens nach dem Tod, hatten ihre Autorität eingebüßt.
Um die Mumien der Pharaonen vor Leichenfledderei zu bewahren, faßten die Priester des Amun irgendwann während der Regierung Ramses' III. (1184-1153 v. Chr.) einen unglaublichen Plan. Sie erkauften sich gegen teures Geld die Verschwiegenheit einer Handvoll Arbeiter. Diese müssen fürstlich entlohnt worden sein - vermutlich erhielten sie ein Salär auf Lebenszeit -, denn der Verrat dieses Planes hätte jedem der Beteiligten ein Vermögen eingebracht. Vielleicht waren es aber auch besonders pietätvolle Grabarbeiter, denen die Aussicht auf Entlohnung im Jenseits die Zunge lahmte.
Diese Mannschaft legte jedenfalls in jahrelanger, heimlicher Arbeit jenes Versteck an, das Achmed Abd er-Rassul erst über 3000 Jahre später entdecken sollte. Es ist bis heute ein Rätsel, wie ein derart umfangreiches Projekt geheim bleiben konnte. Dafür gibt es nur eine Vermutung: Das Versteck lag etwas außerhalb des Tales der Könige, und die umherstreifenden Grabräuberbanden lenkten ihr Hauptaugenmerk auf dieses Wüstental, von dem bekannt war, daß dort die Pharaonen der 18. bis 20. Dynastie ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Zwar gab es hier, westlich des Nils, in der Wüste, zahllose Gräber; aber die meisten stammten von irgendwelchen Privatleuten aus alter Zeit, und ihre Ausstattung war im Vergleich zu einem Königsgrab ärmlich. Überlegungen dieser Art müssen wohl die Priester des Amun beschäftigt haben, als sie an dieser unberührten Felsnase jenen elfeinhalb Meter tiefen Schacht, zwei Meter im Durchmesser, senkrecht in den Fels treiben ließen. Von der Sohle führte ein Kriechgang, 1,4 Meter breit, 80 Zentimeter hoch, 7,4 Meter geradeaus, machte eine Linksbiegung und ging 60 Meter weiter in den Fels, um sich dort zu einem großen Raum zu erweitern.
Allein die Bauarbeiten dürften Jahre gedauert haben, und es nahm noch einmal viele Jahre in Anspruch, bis das geheimgehaltene Projekt unter der Erde seiner Bestimmung übergeben werden konnte. Dabei spielte sich ein in der Geschichte der Menschheit einmaliger Vorgang ab. Fromme Priester zogen des Nachts im Fackelschein durch das Tal der Könige, brachen ein Pharaonengrab nach dem anderen auf. Ältere Grüfte waren bereits vergessen; dann mußten die Amun-Priester wie die Grabräuber die Felsen abklopfen, Tonnen von Geröll wegschaufeln lassen, nach den Eingängen suchen und dies alles stets heimlich, unbemerkt. Sie holten die Särge aus den Grabkammern oder - wenn diese zu groß oder zu schwer waren - die Mumien aus den Sarkophagen und trugen die vor Jahrzehnten und Jahrhunderten gestorbenen Könige durch die Dunkelheit, die steilen Felsklippen empor zu dem Felsenschacht. Dort ließen sie die
Mumien an Seilen hinab in das Verlies, wo sie vor dem Zugriff ruchloser Grabschänder sicher sein sollten. Das Unglaubliche geschah: Ein Königsgrab nach dem anderen wurde von der geheimen Truppe der Amun-Priester in einer Nacht-und-Nebel-Aktion geöffnet, die toten Könige wurden samt den wertvollsten religiösen Grabbeigaben in das Labyrinth oberhalb von Der el-Bahari gebracht. Die Priester, denen einzig und allein das ungestörte Fortleben im Jenseits am Herzen lag, achteten nicht auf Namen und Bedeutung der einzelnen Pharaonen. Jeder hatte, so meinten sie, seine ewige Ruhe verdient. So kam es, daß schließlich 40 Könige in dem Versteck lagen, unbedeutende, aber auch ge-schichtsträchtige wie Thutmosis III., Sethos I. und sein Sohn Ramses II.
Der Raum, der für die Lagerung der Pharaonenmumien aus dem Fels gehauen war, erwies sich schon bald als zu klein. Die Priester nahmen deshalb die letzten aus ihren Särgen und lehnten sie senkrecht an die Wand. Jedem der toten Könige aber hängten sie zur Wahrung seiner Identität ein Namensschild um den Hals.
Die Tatsache, daß damals keineswegs alle im Tal der Könige bestatteten Pharaonen gefunden und in das Mumienversteck gebracht wurden, beruht wohl kaum auf Nachlässigkeit der Priester; schließlich standen ihnen ja die Königslisten zur Verfügung. Sie wußten also genau, welche Namen fehlten. Die heiligen Männer Amuns glaubten viel eher, ein Königsgrab, das von ihnen selbst nach jahrelanger Suche nicht gefunden worden war, würde auch von sporadisch durch das Tal ziehenden Grabräubertrupps nicht entdeckt werden.
Also verschlossen sie, nach Einbringung des letzten Königs, den Zugang zu dem Versteck mit einer Mauer und türmten am Einstieg des Schachtes Felsbrocken auf. Sie taten dies mit solcher Sorgfalt, daß die Stelle 3000 Jahre verborgen blieb - bis Achmed Abd er-Rassul kam.
Der freilich wußte nicht, was er überhaupt entdeckt hatte. Achmed konnte sich keinen Reim darauf machen, warum in ein und demselben Grab mehrere Könige bestattet worden sein sollten, er wußte auch nicht, welche Könige er entdeckt hatte, er wußte nur eins: Der Schmuck der Mumien war ein Vermögen wert. Soviel, daß er, Mohammed und Soliman nie mehr im Leben arbeiten mußten.
Tatsächlich war der Wert der Entdeckung um ein Vielfaches höher, als Achmed vermutete. Die 40 in dem Felslabyrinth oberhalb von Der el-Bahari ruhenden Königsmumien stellten den bisher bedeutsamsten Mumienfund in der ägyptischen Geschichte dar. Mit Geld war diese Entdeckung überhaupt nicht zu bezahlen.
Immerhin war Achmed ein mit allen Wassern gewaschener Grabräuber. In dieser erregenden Situation lautete sein oberstes Gebot Schweigen. Nur Mohammed, der ältere Bruder, wurde eingeweiht.
Mohammed wollte es nicht glauben, was Achmed und So-liman ihm erzählten - ein Grab mit mehreren Königsmumien? Und ausgerechnet dieses sollte jahrtausendelang von Banditen verschont geblieben sein? Zu dritt suchten sie mehrmals die Stelle auf, an der sich der Schacht im Fels öffnete. Keiner von ihnen wagte zunächst erneut den Abstieg. Immer wieder berieten sie, was zu tun sei. Zunächst waren sie sich darüber einig, daß niemandem das Geheimnis verraten werden sollte. Man dürfe, so meinte Achmed, weder die Mumien, noch deren Schmuck als Ganzes verkaufen, vielmehr müsse man die Schmuckstücke der Pharaonen durcheinander und einzeln an den Mann bringen. Er ahnte nicht, daß gerade dieser besonders raffiniert erscheinende Plan zehn Jahre später den Coup auffliegen lassen würde.