Franz Joseph, in der linken Hand ein Hühnerbein, mit der Rechten ein Stück Fladenbrot knetend, antwortete: »Wissen 'S was, mein lieber Professor, ich bin paff, ganz einfach paff. Man kann nur staunen, immer nur staunen - überwältigend.« Der Kaiser blickte bewundernd zur Spitze des mächtigen Bauwerkes auf.
»Die Aussicht von dort oben werden Majestät Ihr Leben nicht vergessen. Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf - wir sollten den Aufstieg baldigst angehen, sonst geraten wir beim Abstieg in die Dunkelheit, dann sind wir die Lackierten.«
»Die Lackierten!« Franz Joseph schüttelte sich vor Lachen über das Wort. »Dann sind wir die Lackierten! - Also brechen wir auf!«
Für gewöhnlich wurden Touristen auf die Cheopspyra-mide transportiert, indem zwei Beduinen den Bergsteiger an den Händen von Stufe zu Stufe hochzogen, während ein dritter von hinten anschob. Kaiser Franz Joseph lehnte eine solche Unterstützung jedoch ab, er sei ein guter Bergsteiger und bei der Gamsjagd in Tirol immer einer der ersten. Nach der Hälfte des Weges machten Majestät dann aber schlapp, und Brugsch mußte seine ganze Überredungsgabe aufwenden, um den Kaiser mit dem Hinweis auf die einmalige Aussicht doch noch nach oben zu bringen. Schnaufend gelangten sie endlich auf das kleine, zehn mal zehn Meter große Plateau, und Franz Joseph konnte sich etwas erholen. Graf Andrassy versuchte die langanhaltende Stille durch einen Scherz aufzulockern, er blickte in die Tiefe und sagte in Anlehnung an Napoleons berühmten Satz: »Sire, vierzig Kutschen sehen Euch an, am Fuß dieser Pyramide.« Wie Spielzeug standen, die eingetroffenen Wagen dort unten aufgereiht, unwirklich fern, obwohl jedes Klirren des Zaumzeuges, jedes Knarren eines Rades an ihr Ohr drang. »Sagen 'S, Herr Professor«, erkundigte sich der Kaiser, »wann lebte eigentlich dieser König Cheops?« »Er war der zweite König der vierten Dynastie«, antwortete Brugsch, »das wissen wir; aber wann er gelebt und regiert hat, wann er gestorben ist. . .« - Brugsch hob die Schultern - »darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Zwischen den Daten von Auguste Mariette und Professor Lep-sius liegen mehr als tausend Jahre, der eine meint, im fünften Jahrtausend, der andere im vierten Jahrtausend vor Christus.«
»Und dieses Bauwerk diente König Cheops wirklich nur als Grab?«
»Jawohl, Majestät. Zumindest hat man bisher keine Hinweise auf eine andere Verwendung gefunden. Von der Grabkammer im Innern führen Luftschächte zum Himmel, aber da der König bereits tot war, als man ihn hierher brachte, hatten sie wohl nur symbolische Bedeutung für den Flug der Seele ins Jenseits.«
»Interessant«, sagte der Kaiser, »und der Sarg des Pharao?«
»War leer, wie alle Königssarkophage, die wir bisher entdeckt haben . .. «
Franz Joseph blickte über die Sanddünen am Fuß der Pyramide zur Sphinx, die zur Hälfte aus dem Sand ragte, und weiter zu der fernen Reihe von Pyramiden, die sich nach Memphis hin in sandigem Gelbocker auflösten. Im Osten leuchtete das dunkle Grün der Niloase aus dem Sandmeer, und schnurgerade lief die neue Pyramidenstraße zur Stadt hin, der ganze Stolz des Paschas, in drei Monaten in der Wüste angelegt für die Gäste aus aller Welt, die zur Einweihung des maritimen Kanals von Suez erwartet wurden. Seit den Zeiten Kleopatras, der letzten Pharaonin, hatte das Land am Nil solch eine Festlichkeit nicht mehr erlebt. Ismail Pascha hatte alle Vorbereitungen für ein Fest treffen lassen, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte. Der offizielle Festakt sollte am 16. November 1869 stattfinden. Doch schon Wochen zuvor gab es Pannen, nichts als Pannen. Das Opernhaus in Kairo wurde zwar gerade noch fertig, aber die von Ismail Pascha bei Verdi in Auftrag gegebene Oper Aida blieb unvollendet, so daß der Maestro das Haus mit Rigoletto eröffnete. Die Aida-Premiere konnte erst zwei Jahre später erfolgen. Wenige Tage vor der Einweihung entdeckte man in der Nähe von Schaluf einen fünf Meter großen Felsbrocken im Kanalbett. Bei der Sprengung stürzten die Uferböschungen ein. In Port Said, wo das Eröffnungszeremoniell geplant war, brach am 15. November ein Feuer aus, griff auf die Lagerhallen mit den für die Einweihung bestimmten Feuerwerkskörpern über und sprengte beinahe die ganze Stadt in die Luft. Am Tag vor dem Festakt wurde eine für die Ehrengäste errichtete Plattform überflutet, und am selben Abend lief eine ägyptische Fregatte 30 Kilometer südlich von Port Said im Kanal auf Grund. Nur mit größtem Aufwand gelang es dennoch, die feierliche Eröffnung über die Bühne zu bringen.
Gegen elf Uhr, am Vormittag des 16. November 1869, tauchte am Horizont vor Port Said die Yacht »L'Aigle« der Kaiserin Eugenie von Frankreich auf. Die im Hafen ankernden Schiffe zogen ihre Flaggen auf, von den Fregatten wurde Salut geschossen, und der Vizekönig nahm auf seinem Thron in dem mittleren der drei am Kai errichteten, von Fahnen umsäumten und mit dem Halbmond gekrönten Pavillons Platz. Die kaiserliche Yacht kam aus Alexandria, wo sie Ferdinand de Lesseps und seine beiden Söhne an Bord genommen hatte. Lesseps war ein Cousin der Kaiserin. Eugenie reiste allein, ihr Gemahl Napoleon III. fühlte sich gesundheitlich und politisch nicht in der Lage, sein Land zu verlassen. Das war auch der Hauptgrund, warum der österreichische Kaiser Franz Joseph, der weite Reisen haßte, sich auf den Weg in den Orient gemacht hatte. Ansonsten, so der Ministerrat, wäre die Rolle des Kavaliers der Kaiserin dem anwesenden preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm zugefallen, und Preußen hätte so vor aller Welt seine Ebenbürtigkeit mit Frankreich demonstrieren können. Kaiserin Eugenie stand, eingerahmt von 50 Marinesoldaten, wie eine Galionsfigur im Bug ihres Schiffes. Sie trug ein langes, enganliegendes, hellrotes Samtkleid, das Haar hochgesteckt und mit einer juwelenbesetzten Tiara gekrönt. Der französischen Yacht folgte das österreichische Dampfschiff »Greif« mit Kaiser Franz Joseph an Bord, in seiner Begleitung Graf Andrassy und Ministerpräsident Friedrich Ferdinand von Beust. Farbenfroh in einen gelben Rock und graue Hosen gekleidet, beantwortete der österreichisch-ungarische Kaiser Franz Joseph die Hochrufe vom Kai mit huldvollem Winken.
Protokollgemäß sollte der »Greif« der preußischen Yacht »Grille« mit dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm und seiner Gemahlin folgen; aber zwei österreichische Begleitschiffe machten den Preußen den Rang streitig. Dem preußischen Kronprinzen schlössen sich Prinz und Prinzessin der Nie -derlande und der britische Botschafter in Konstantinopel, Sir Henry Elliot, auf ihren Schiffen an. Die Ehrengäste hatten inzwischen in den Pavillons am Kai Platz genommen: Staatsoberhäupter, Minister und Diplomaten, aber auch Künstler und Wissenschaftler waren aus ganz Europa angereist. Emile Zola, Theophile Gautier, Henrik Ibsen waren ebenso erschienen wie Giuseppe Verdi, Richard Lepsius, Auguste Mariette und Heinrich Brugsch. Ismail Pascha war es gelungen, die gesamte Weltpresse für die Kanaleinweihung zu interessieren. Zum erstenmal fand ein bedeutsames Ereignis ein weltweites Echo, erstmalig standen den Journalisten Hotels, Wagen, Eisenbahnen und Dampfschiffe kostenlos zur Verfügung, eine Geste, die bald Schule machen sollte.