Ebers kritzelte etwas in sein Notizbuch, er riß ein Blatt heraus und reichte es dem Telegrafenbeamten: »Wenn Sie dieses Telegramm ebenfalls aufnehmen könnten, es ist für Professor Brugsch bestimmt.« Auf dem Zettel standen zwei Zeilen: »Goldbergwerke gefunden - Ägyptologie gerettet.«
Als der Nil über die Ufer trat, tanzten die Menschen auf den Straßen. Das taten sie jedes Jahr; denn die im Juni einsetzende Nilflut, Folge der Regenfälle im Äthiopischen Hochland, war für die Bewässerung ihrer Felder von größter Bedeutung, und schon die alten Ägypter setzten nach der Höhe des Wasserstandes die Steuern fest. Doch der Sommer des Jahres 1878 übertraf alle Erwartungen. Schmutzigbraune Wassermassen wälzten sich unaufhaltsam ansteigend nach Norden, spülten Dämme und Wehre weg, überfluteten Felder und Siedlungen und drangen tief in das Landesinnere auf Gebiete vor, die seit Menschengedenken nicht von der Nilflut erreicht worden waren. Das Tanzen der Menschen verebbte zu stummem Gebet. Wollte der Nil das Land mit sich fortreißen ?
Die Behörden in Kairo hatten alle Flutwarnungen aus Oberägypten ignoriert, der Beamtenapparat des Khediven war durch die Zuspitzung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse ohnehin blockiert. Seit Monaten wurden keine Gehälter mehr bezahlt, das Chaos trieb seinem Höhepunkt entgegen, wer kümmerte sich in dieser Situation um die Ankündigung einer Nilflut. Tagelang leckten die braunen Wasser an den Uferböschungen in der Stadt, als die ersten Wogen über die Prome-naden schwappten, wurden die Brücken gesperrt - eine reine Vorsichtsmaßnahme, wie es hieß. Der Höchstpegel sei überschritten, man warte stündlich auf das Fallen des Wasserstandes, es bestehe kein Grund zur Besorgnis. Doch dann, in der folgenden Nacht, gegen elf Uhr, wälzte sich eine neue, noch höhere Flutwelle auf Kairo zu. Die Stadt schlief. Auguste Mariette saß im Arbeitszimmer seines Hauses an der Nillände und studierte die laufenden Grabungsberichte. Es ging ihm nicht besonders gut; er hatte mit zunehmenden Lähmungserscheinungen in den Beinen zu kämpfen, aber, so meinte er, wer auf die Sechzig zugehe, dürfe sich über derlei Beschwerden nicht beklagen.
Um Mariette herum herrschte eine beispiellose Unordnung. Kisten und Kästchen mit Scherben und Kleinfunden türmten sich auf Stapeln von Büchern, Stößen von Papier, Karten, Aufzeichnungen und Rechnungen. Obwohl der Franzose von einer Wirtschafterin, einem Hausdiener und einem Kutscher bedient wurde, ließ er nicht zu, daß in die -sem Raum auch nur ein Blatt verrückt oder ein Staubkorn beseitigt wurde. Dies war sein Reich, seine Welt; hier arbeitete er meist im Kerzenschein bis lange nach Mitternacht, notierte Entdeckungen und Funde, verfaßte neue Anweisungen und erledigte den gesamten verwaltungstechnischen Aufwand, den die Altertümerverwaltung mit sich brachte. Immer bedrohlicher wurde das Rauschen der Nilflut, immer näher kam das Schlagen der Wellen, immer heftiger hörte man das Gurgeln und Zischen. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Mariette war so in seine Berichte vertieft, daß er das schmale Rinnsal, das sich über die Türschwelle einen Weg in das Innere suchte, zwar wahrnahm, aber nicht mit wachem Verstand registrierte. Erst, als das Wasser einen Stoß Grabungsaufzeichnungen erreichte und von dem trockenen Papier in Sekunden aufgesogen wurde, schrak Mariette aus seinen Gedanken hoch: die Nilflut!
Mariette sprang auf, fiel zurück in seinen Sessel, zog sich mit den Armen hoch, versuchte auf die Beine zu kommen, zu stehen - vergebens. Seine Beine gehorchten nicht, sie widersetzten sich den Befehlen seines Gehirns. Auguste! sagte er zu sich, du mußt aufstehen. Er stützte sich auf den Armlehnen ab, versuchte es noch einmal und blieb dann auf halbem Weg stecken.
Was ist mit meinen Beinen los? Warum gehorchen sie mir nicht? Warum nicht? dachte er fieberhaft. Er zog sich mit den Armen über den Schreibtisch, schob die Kerze vor sich her und blickte, hilflos auf dem Bauch liegend, im Zimmer umher.
Von allen Seiten drückte jetzt das Wasser in den Raum, es quoll sprudelnd unter der Türe hindurch, modernder Geruch machte sich breit. Karten und Blätter, die gestapelt auf dem Boden herumlagen, wölbten sich, wenn sie das Wasser benetzte, bäumten sich auf, als wollten sie sich gegen die Fluten wehren.
Der hilflose Forscher klammerte sich an den Rand seiner Schreibtischplatte. Sein Licht begann bedrohlich zu flackern. »Hilfe!« schrie Mariette, »Hilfe!« Dabei wußte er ganz genau, daß ihn niemand hören konnte. Den Diener hatte er nach Hause geschickt, die beiden anderen Bediensteten lebten ohnehin außerhalb des Hauses. Wenn Mariette über den Rand des Schreibtisches starrte, sah er, wie das Wasser ganz langsam, aber stetig an dem Möbelstück hochstieg, und er überlegte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis es ihn erreicht habe. Da begann der große Mann zu weinen. Es waren Tränen der Verzweiflung, die Mariette aus den Augen flössen.
Inzwischen stand das Wasser schon knietief, Papierstapel stürzten ein, Blätter schwammen wie Schiffchen umher, Kisten wurden überflutet. Wollte dieser gottverdammte Nilstrom sein Lebenswerk vernichten? Die Aufzeichnungen von 28 Jahren wissenschaftlicher Arbeit?
Mit einem lauten Knall sprang die Türe auf. Mariette drehte sich um, glaubte, daß Hilfe nahte; doch nur eine große Woge schwappte zur Tür herein, klatschte gegen den Schreibtisch, und ein paar stinkende Spritzer durchnäßten ihn bis auf die Haut. Jetzt begann Mariette um sein Leben zu fürchten. Soll ich denn hier auf meinem Schreibtisch ersaufen? schoß es durch sein Gehirn. Er stützte sich auf, kam auf dem Tisch zu sitzen, seine Beine baumelten im Wasser. Das große Regal an der Wand, in dem Tausende von Aufzeichnungen archiviert lagen, begann im Rhythmus der Wellen zu schwanken, neigte sich bedrohlich nach vorn, knarzte. Was in Sakkara, Abydos, in Beni Suef, Mendes und Bubastis ausgegraben und gefunden worden war, hier lag es aufgezeichnet und wartete auf Auswertung. Das alles durfte nicht vernichtet werden! Mariette fixierte das tanzende Gestell mit den Augen, als wollte er es hypnotisieren: Bleib stehen, hörst du! Die Beschwörungen blieben ungehört. Ein Ächzen, Knacken, ein Bersten - Akten, Bücher, Papier und Kästen stürzten in sich zusammen, klatschten schäumend in das schwankende Wasser, das jetzt die Schreibtischplatte erreicht hatte.
Da hörte er eine Stimme. Sie klang suchend, flehend: »Mariette! Mariette!« - Es war Brugsch. Seine Stimme hallte gespensterhaft durch das Museum. »Mariette! Mariette!« Brugsch watete durch das Museum, brachte, manchmal bis zum Bauch im Wasser stehend, kleinere Objekte, die vom Wasser vernichtet zu werden drohten, in Sicherheit, und konnte um alles in der Welt nicht verstehen, wo Mariette geblieben war.
»Henri!« schrie der Hilflose auf seinem Schreibtisch. »Hier bin ich«, er lauschte in das Rauschen der Nilflut. »Henri!« Aber es kam keine Antwort. Heinrich Brugsch versuchte mit höchster Anstrengung zu retten, was noch zu retten war. Plötzlich hielt er inne. Ihm war es, als riefe jemand seinen Namen. Kein Zweifel, das war Auguste! Brugsch kämpfte sich zur Türe durch, lauschte. Das Rufen kam aus Mariettes Wohnhaus. Auf einmal war ihm klar: Mariette brachte seine wissenschaftlichen Aufzeichnungen in Sicherheit, natürlich, wie konnte er das vergessen! Sein Lebenswerk!