Ein Blick durch die Türe ließ Brugsch erschauern. Mariette lag auf dem Schreibtisch und schlug halb wahnsinnig mit den Händen in das schmutzigbraune Wasser. Er registrierte Brugschs Anwesenheit zwar, aber er reagierte nicht darauf.
»Auguste!« rief Brugsch voll Angst. »Was ist mit dir?« - Er arbeitete sich zu dem Hilflosen vor, packte ihn bei der Schulter. »Was ist mit dir, Auguste?«
Tränen rannen über das Gesicht des kranken Mannes, das in diesem Augenblick das Gesicht eines Greises zu sein schien. »Auguste!« Eine hilflose Geste verriet Brugsch, was geschehen war. Mariette sagte kein Wort, er deutete nur auf seine steifen Beine und sah um sich, wo all das, was er in einem halben Leben wie ein Besessener zusammengetragen hatte, der Vernichtung anheimfiel. »Wir müssen hier raus!« rief Heinrich Brugsch, der nun bemerkte, wie immer höhere Wellen in das Haus fluteten. Mariette zeigte keine Regung, starrte geistesabwesend vor sich hin, als habe er sich damit abgefunden, hier inmitten seiner Welt zu sterben.
Da packte der schmächtige Preuße seinen Freund an beiden Händen, zog ihn wie einen schweren Sack auf den Rük-ken und trug und schleifte ihn durch das brodelnde, kreisende, gurgelnde Wasser. Er kannte Schwellen und Stufen des Hauses, tastete sich vorsichtig vor, die schwere Last drohte ihm jeden Augenblick zu entgleiten. Mit kurzem Blick nahm Brugsch wahr, daß die Rettungsarbeiten, die er im Museum geleistet hatte, sinnlos gewesen waren, der Wasserspiegel hatte längst alles überflutet. Auf halbem Weg kam dem Preußen sein Bruder Emil ent-gegen. Im Wasser stehend hakten sie den willenlosen Ma-riette an den Armen unter und brachten ihn so hinter dem Museumsgarten in Sicherheit. »Ist er verletzt?« fragte Emil. Heinrich schüttelte den Kopf: »Ich glaube, seine Beine sind wieder gelähmt. Versuche deine Beine zu bewegen!« rief er und kam ganz nahe an das Gesicht Mariettes heran. Aber der Angesprochene gab keine Regung von sich, er atmete schwer, sagte aber nichts. »Es muß ein Schock für ihn sein!« sagte Heinrich Brugsch. »Sein Lebenswerk in der Nilflut versinken zu sehen. Solche Lähmungserscheinungen können durch so etwas ausgelöst werden.«
»Aber sein Ruhm ist nicht im Wasser versunken«, meinte Emil.
»Ruhm!« sagte Heinrich verächtlich. »Er hat das alles nicht um des Ruhmes willen getan, er tat es um der Sache willen, verstehst du. Und für die Altertumswissenschaft waren die Aufzeichnungen wichtiger als sein Ruhm.« Emil nickte. Sie trugen Mariette zu Brugschs Haus, wickelten ihn in Wolldecken und flößten ihm Rakischnaps ein. Auf einmal richtete Mariette sich auf, mußte husten und murmelte dann bitter. »Ich danke Euch, aber Ihr hättet mich lieber mit all meinem Zeug ersaufen lassen sollen.«
Die wiederentdeckten Goldbergwerke brachten in der Tat beachtenswerte Mengen des kostbaren Metalls ans Tageslicht, doch angesichts des Staatsbankrotts waren diese Erlöse nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Von der Pariser Rothschild-Bank war dem Khediven eine letzte Anleihe von neun Millionen ägyptischer Pfund auf den Privatbesitz des Paschas gewährt worden. Nicht einmal die Aufnahme eines Briten und eines Franzosen ins Kabinett - ihre Länder teilten sich die Schuldenlast - konnte das Ruder noch herumreißen. Es schien nur noch eine Frage von Tagen, bis Ismail und seine Regierung aufgaben.
Am 26. Juli 1879 trafen in Kairo zwei ungewöhnliche Telegramme ein. Absender war der türkische Sultan in Konstantinopel. Allein die Adressen genügten, um dem Vasallen die neue Situation unmißverständlich klarzumachen. Das eine Telegramm war gerichtet »An den Ex-Khediven Ismail Pascha«, das andere trug die Anschrift »An Seine königliche Hoheit, den Khediven von Ägypten Taufik Pascha«. Der 26jährige Prinz Taufik war ein Sohn Ismail Paschas. Vater und Sohn hatten Tränen in den Augen, als sie sich im Abdin-Palast in die Arme fielen. »Sei gegrüßt, mein König!« sagte der Vater. »Möge dir mehr Erfolg beschieden sein als deinem Vater!«
Vier Tage später bestieg der abgesetzte Vizekönig in Alexandria seine Yacht »Mahroussa«. Der Kapitän hatte Order, nicht innerhalb des Ottomanischen Reiches an Land zu gehen. Deshalb nahm die »Mahroussa« Kurs auf Neapel, wo König Umberto den Gast aus Ägypten willkommen hieß und ihm den Palast »La Favorita« zur Verfügung stellte. Umbertos Vater Victor Emanuele II. hatte sich einst beim Vizekönig eine größere Summe Geld geborgt, aber nie zurückgezahlt; jetzt konnte Umberto sich revanchieren. Das Wort »Ägypten« war fortan aus dem Wortschatz des Ex-Khediven gestrichen und es durfte in seinem Palast auch nicht gebraucht werden.
Mit der Absetzung des Vizekönigs waren die Probleme des Landes freilich nicht gelöst. Taufik, der älteste von sieben Söhnen Ismails, war jedoch eine leichter zu führende Marionette in den Händen der Großmächte. Seit 1876 wurden wichtige Entscheidungen von den beiden ausländischen Ministern im Kabinett getroffen: Der Engländer Sir Rivers Wilson leitete das Finanzressort, der Franzose M. de Blignie -res war für öffentliche Ausgaben zuständig. Blignieres ließ eines Tages Mariette ins Ministerium rufen: »Mein lieber Mariette«, begann er ohne Umschweife, »Sie wissen um den desolaten Zustand der ägyptischen Staatsfi-nanzen, und deshalb sehen wir uns zu unserem größten Bedauern gezwungen, die Sparmaßnahmen auch auf das Gebiet der Altertumswissenschaft auszudehnen. Ihre Ausgrabungen und Ihre Behörde haben Hunderttausende verschlungen und damit zum Staatsbankrott beigetragen.« »Soll das heißen«, unterbrach ihn Mariette, »daß Sie die Verwaltung der Altertümer aufzulösen gedenken?« Der Minister hob verlegen die Schultern: »Nicht direkt -nur Grabungen können Sie keine mehr vornehmen. Wir können uns derart sinnlose Ausgaben einfach nicht mehr leisten.«
»Sinnlose Ausgaben«, wiederholte Auguste Mariette, »sinnlose Ausgaben, ich verstehe.« Noch vor ein paar Jahren hätte Mariette zu toben begonnen, den Minister mit üblen Flüchen beschimpft und vielleicht irgendeinen Ausweg aus der Misere gefunden; aber Mariette wirkte kraftlos, beinahe hilflos.
»Es steht Ihnen natürlich frei, Ihren privaten Forschungen nachzugehen«, meinte der Minister entschuldigend. »Wir werden Ihnen, in Anerkennung Ihrer Verdienste, auch eine kleine Unterstützung aussetzen, aber für große Grabungsprojekte dürfen Sie nicht mehr mit uns rechnen.« Eine kleine Unterstützung. Nichts konnte einen Mann wie Mariette härter treffen, mehr demütigen als diese Worte. Grußlos hatte er sich umgedreht und war gegangen. Zur gleichen Zeit hatte Heinrich Brugsch eine Audienz bei Finanzminister Rivers Wilson. Der Brite teilte ihm in arrogantem Ton mit, daß die deutsche Hochschule ab sofort aufgelöst sei, er selbst, Brugsch, sei dem Finanzministerium als Beamter zugeordnet. Darauf entgegnete der preußische Professor, er möge vielleicht ein passabler Altertumswissenschaftler sein, denn damit habe er sich ein Leben lang beschäftigt, aber zum Finanzbeamten habe er einfach nicht das Zeug.
»Was sind Sie eigentlich?« fragte Wilson mürrisch.
»Ein getreuer Untertan Seiner Majestät des Kaisers von Deutschland.«
»Nein, ich meine, was Sie gelernt haben, wozu Sie tauglich sind im Dienste der Regierung?«
»Ich bin Gelehrter und in meiner Heimat Universitätsprofessor.«
»Können wir hier nicht gebrauchen«, kam die Antwort Wilsons, »Leute mit Ihren Kenntnissen gibt es zu Hunderten in England.«
Brugsch spürte einen Stich im Herzen. Er ging nach Hause und reichte seinen Abschied ein.
Durch das Tal der Könige hallten die Schläge von Steinhämmern und Äxten. Wie Spinnen seilten sie sich von den Felsklippen in die brüchigen Gesteinswände ab, bearbeiteten je -den Felsvorsprung, klopften jede Spalte ab und inspizierten jedes Loch. Eine französische Expedition, ausgerüstet mit bestem technischem Material, unterstützt mit reichlichen Geldern, untersuchte jeden Winkel des Tales, um diesem faszinierenden Ort das letzte Geheimnis zu entreißen. Wo aber lag dieses Geheimnis? Wo waren die übrigen Pharaonen begraben?