»Ich selbst glaube an das Jahr 5004, aber das ist auch nur eine Theorie .. .«
»Und Richard Lepsius«, unterbrach Brugsch seinen Gastgeber, »ist neuerdings der Auffassung, daß die 1 Dynastie im Jahre 3892 vor unserer Zeitrechnung begann.« Weinselig begannen beide ein großes Rechnen, in welcher Zeit die 19. Dynastie, in der Chaemwese lebte, anzusetzen sei; aber der rote Wein und die verbrauchte Luft hatten bereits ihre Sinne getrübt. Und gegen Mitternacht entschlossen sie sich zum Aufstieg aus der Unterwelt. Glitzernd hing der Sternenhimmel über der Wüste. Von irgendwoher drang das Heulen eines Schakals, der für den Mondgott Chons seine Totenklage anstimmte. Nicht anders mag die Nacht gewesen sein, als Chaemwese noch hier verweilte.
Affen quiekten, ein paar Fledermäuse fuhren erschreckt hoch, als Mariette die Türe zum Ausgräberhaus öffnete. Wortlos faßte er Brugsch am Arm und zog ihn zu einem der hinteren Räume. Mariette stieß die Tür auf und hielt seine Lampe hinein. Brugsch versuchte anfangs vergeblich, irgend etwas zu erkennen; doch dann erblickte er im tanzenden Lichtkegel der Laterne das grinsende Gesicht einer Mumie. »Chaemwese!« schrie der Franzose, »Chaemwese, wie alt bist du?«
Energisches Klopfen. Heinrich Brugsch fuhr hoch. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, daß er all das nicht geträumt hatte. Nein, er hatte tatsächlich die Nacht Wand an Wand mit der Mumie Chaemweses verbracht. »Wenn Sie duschen wollen, müssen Sie aufstehen!« Mariettes Stimme. Duschen? Hier, in der wasserlosen Wüste? Womöglich in einem Sarkophag der Apis-Stiere?
Als er vor die Türe trat, huldigte Mariette bereits der Hygiene. Er stand splitternackt im Sand. Vor ihm eine lange Schlange kichernder und palavernder Fellachenmädchen, jedes mit einem Wasserkrug auf dem Kopf. Die Mädchen stiegen vor dem Ausgräber auf einen Steinblock und gössen dem genüßlich schnaubenden Maitre Wasser über den Kopf. »Sie dürfen es ihnen nicht abschlagen«, prustete Mariette, »wegen Ihnen sind sie heute in doppelter Formation angetreten, sonst kommt nur die Hälfte!« Kaum hatte eine ihren Krug geleert, machte sie schon der nächsten Platz. Im Gänsemarsch, die leeren Krüge auf dem Kopf balancierend, machten sie sich sogleich auf den Rückweg in ihr Dorf. »So genüßlich habe ich nicht einmal im preußischen Konsulat in Kairo geduscht«, sagte Brugsch, als sie im Hof des Ausgräbercamps beim Frühstück saßen. Mariette lachte breit: »Ja, ja, das Leben in der Wüste, abseits jeder Zivilisation, hat auch seine Reize.« Ein Affe saß auf seiner Schulter, aber den Franzosen schien das nicht zu stören. Erst als der Affe unruhig von der Schulter sprang und aufgeregt im Sand hin und her rannte, erhob sich Mariette und blickte zum nördlichen Horizont, wo eine dunkle Staubwolke zum Himmel stieg. Er ging in das Haus und kam mit einem Fernrohr zurück.
»Ich glaube, wir bekommen Besuch«, sagte er nach einem Blick durch das Fernrohr, »wie mir scheint, unliebsamen Besuch. Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick.« Dann nahm er einen Stock und begann damit im Wüstensand einen Strich zu ziehen, der das Ausgräberhaus, die Sphingenallee und den Zugang zum Serapis-Tempel einschloß. Schließlich zog er die französische Fahne auf, die am Abend zuvor eingeholt worden war, rief die Grabungsarbeiter von ihrer Arbeitsstelle zu sich und händigte seinem Assistenten eine Schrotflinte aus. Er selbst nahm sein Gewehr und stellte sich unmittelbar hinter der frisch gezogenen Demarkationslinie auf.
»Männer!« rief er, während Mohammed, der Vorarbeiter, übersetzte. »Ich glaube, der türkische Pascha will uns um die Früchte unserer Arbeit bringen. Aber keine Bange, wir werden ihnen eine Lektion erteilen!« Die Fellachen johlten, als gelte es in den Krieg zu ziehen. Sie haßten die türkischen Herren, und der kleinste Anlaß, gegen sie vorzugehen, war ihnen willkommen. Jetzt machte ein Dutzend Reiter, mazedonische Arnauten, die damals Polizeidienste in Ägypten leisteten, vor ihnen halt. Ihr Anführer stieg vom Pferd, zog einen Firman aus seiner Satteltasche und wollte auf Mariette zugehen.
»Halt!« Der Franzose riß seine Flinte hoch, zeigte mit dem Gewehrlauf auf den Strich, der zwischen beiden verlief, und schrie den erschreckten Hauptmann an: »Keinen Schritt weiter! Hinter diesem Strich beginnt französisches Terrain. Die Wüste ist Freiland. Sie gehört niemandem. Ich habe diesen Teil der Wüste besetzt.«
Der Hauptmann versuchte auf Mariette einzureden, Pascha Abbas habe sie ausgesandt, um alle Ausgrabungen zu unterbinden und die kostbaren Funde abzuholen. Kein einziges Fundstück dürfe mehr außer Landes gebracht werden. Mariette trat zwei Schritte zurück und stellte sich neben seinen bewaffneten Assistenten. Brugsch, der dem Franzosen alles zutraute, suchte hinter einem Hauseck Deckung. Er hörte, wie Mariette sein Gewehr entsicherte und mit fester Stimme verkündete: »Ich schieße jeden von seinem Pferd herunter, der es wagt, französisches Hoheitsgebiet zu betreten!«
Einen Augenblick herrschte atemlose Stille. Die bewaffneten Soldaten waren zwar in der Überzahl, aber konfrontiert mit dieser unerwarteten Situation, wußte der Arnauten-Hauptmann im Augenblick nicht, was er tun sollte. Verursachte er mit der Einnahme dieses Terrains gar einen diplomatischen Konflikt? Er gab ein kurzes Kommando, die Reiter machten kehrt und preschten in die Richtung davon, aus der sie gekommen waren.
Mariette lachte. Er lachte, daß die Tränen über sein tiefgefurchtes Gesicht kullerten. Sein Lachen wirkte ansteckend, und auf einmal lachten sie alle, als wollten sie einen Alptraum abschütteln: der französische Assistent, die Fellachen und Brugsch. »Entschuldigen Sie die kleine Unterbrechung!« sagte Mariette. »Ich hasse diese Störungen beim Frühstück, Hassan, noch Kaffee für unseren Gast!« Brugsch, der ernstlich um sein Leben besorgt gewesen war, bewunderte die kühle Haltung des Franzosen. Der hielt die Hand vor den Mund und sagte, so als ob es niemand hören sollte: »Sie müssen wissen, ich habe ein Schiff geordert, es wird morgen erwartet und soll meine Ausgrabungen nach Paris bringen - Sie verstehen.« Was Mariette nicht wußte: Dieses Schiff segelte unter französischer Flagge bereits nilaufwärts. Die Nachricht davon war Pascha Abbas überbracht worden, der daraufhin die Polizeiaktion ausgelöst hatte. Nun versuchte der wütende Pascha dem Franzosen mit List beizukommen. Am nächsten Morgen sandte er einen alten zahnlosen türkischen Bimba-schi nach Sakkara, der Mariette nicht ohne Würde mitteilte, daß die Ausgrabungen in der »französischen« Wüste nicht mehr gestört würden. Er sei jedoch dazu ausersehen, den Transport der Denkmäler auf ägyptischem Gebiet zu überwachen und diese als Eigentum der Regierung dankbarst in Empfang zu nehmen.
Was tun? Am Nil ankerte bereits der Frachter. Mariette ließ Raki-Schnaps einschenken, und zwischen ihm und dem Bimbaschi entspann sich die folgende Unterhaltung.
»Monsieur le Major, ich freue mich, Eure Bekanntschaft gemacht zu haben. Ihr seid ein braver Mann, dem ich das höchste Vertrauen schenke.«
»Gott schenke Euch, erlauchter Mariette, alles Heil und verlängere Euer Alter.«
»Ich muß Euch im strengsten Vertrauen mitteilen, daß ich gestern einen großen Goldfund gemacht habe . ..« Das Zeremoniell war jäh beendet. »Wo ist er? Gebt ihn sofort heraus!« rief der Alte.
»Erlaubt mir, daß ich meine Rede zu Ende führe«, beruhigte Mariette. »Ich will Euch sagen, wo ich ihn versteckt halte. In einem Brunnen.« »Wo ist der Brunnen? Ich muß das Gold sehen!« »Ich stehe zu Euren Diensten. Steigt selber hinab, um Euch davon zu überzeugen.« »Bei Allah, das will ich.«
»Aber bedenkt Euer Alter. Ihr müßt Euch mit einem Strick um den Bauch von zweien meiner Arbeiter 30 Ellen in die