Mitten in der Arbeit hörte Flinders Petrie die jugendliche Stimme eines Engländers hinter sich: »Entschuldigen Sie, Sir!« Als sich Petrie umdrehte, stand vor ihm ein hochaufgeschossener junger Mann, der in der linken Hand ein Bündel mit Habseligkeiten, in der rechten ein paar Zeichenblöcke trug. »Ich komme auf Empfehlung von Lord Tyssen-Am-herst und möchte mich bei den Ausgrabungen des Egypt Exploration Fund nützlich machen.«
Petrie wischte sich den Staub von den Händen, ging einen Schritt auf den Jungen zu und sagte: »Erst mal willkommen in Amarna. Ich bin Flinders Petrie.« »Howard Carter!« stammelte der andere und machte den linkischen Versuch einer Verbeugung.
»So, so, Tyssen-Amherst schickt dich, ein großer Förderer unserer Kunst. Du kennst ihn?«
»Flüchtig«, antwortete Howard. »Daß ich hier vor Ihnen stehe, verdanke ich eigentlich seiner Frau. Ich begegnete Lady Amherst in Didlington. Dort habe ich gemalt. Sie meinte, ich könne mich beim Abzeichnen von Reliefs und Schriften nützlich machen.«
Petrie knurrte irgend etwas von Unverständnis und dummem Weibergeschwätz. Der Junge beeilte sich hinzuzufügen, daß der Lord ihn mit einer achtbaren Apanage ausgestattet habe, er werde dem Team also gewiß nicht auf der Tasche liegen.
»Und die Bedingungen?« fragte Petrie. »Seine Lordschaft knüpft an dieses Unternehmen doch gewisse Erwartungen.« Carter nickte und rückte nur zaghaft mit der Sprache heraus: »Ich soll für ihn graben . . .« »Ach, so ist das!« meinte Petrie, und aus seinen Worten klang nicht gerade Begeisterung. »Na ja, dann mach es dir mal bei uns bequem.« Er zeigte auf die zwei Ausgräberhäuser. Es ärgerte ihn, daß der Lord ihm einen Konkurrenten geschickt hatte, deshalb wies er Carter als erste Aufgabe ein Grabungsareal an der Außenmauer zu, dessen Erde er mit seinen Leuten bereits ohne großen Erfolg durchsiebt hatte. Der junge Howard Carter war zurückhaltend, schüchtern und redete nur, wenn er gefragt wurde. Mutterseelenallein schaufelte er an der ihm zugewiesenen Stelle. Petrie schämte sich vor seinen beiden Assistenten Haworth und Kennard, die das unfaire Spiel durchschauten. Seine Hoffnung, noch weitere Keilschrifttafeln zu finden, erfüllte sich nicht; denn die Bewohner von El-Hagg Quandil hatten längst das gesamt Areal umgegraben. Es gab keine weiteren Tafeln. Dafür stieß Petrie, der das Gelände des Palastes mit Suchgräben durchzogen hatte, auf einen prachtvollen Fußboden. Wasservögel, auf geglätteten Gips gemalt, huschten durch das Nilschilf, stelzten zwischen exotischen
Blumen, farbenfroh wie am ersten Tag. »Kennard«, sagte Petrie und verschränkte zufrieden die Arme über der Brust, »holen Sie mir den jungen Carter!« Als Carter kam, hielt er dem Forscher eine kleine Plastik entgegen. Und als der Junge den fragenden Blick des Meisters sah, zeigte er zu der Palastmauer, dort habe er die Statue gefunden, keinen halben Meter unter der Oberfläche. »Eine Königin«, murmelte Petrie und tippte auf die Königinnenhaube der weiblichen Figur. »Kommt so mir nichts dir nichts daher und gräbt eine Königinnenstatue aus.« »Es gibt noch mehr davon«, sagte Howard, »aber alles nur Bruchstücke. Leider.«
Als sie an diesem Abend um den rauhgezimmerten Tisch in der Hütte saßen, begrub Petrie seine persönlichen Aversionen; denn er wußte, daß er in Howard einen begabten, vor allem aber verbissenen Ausgräber vor sich hatte. Und Carter bewunderte seinen Lehrmeister vorbehaltlos. Gemeinsam gruben sie eine Wintersaison. Petries Bemühungen galten vor allem der Architektur des Ortes. Für konkrete Grabungen war das Gelände einfach zu weiträumig, deshalb beschränkte er sich darauf, mit Hilfe von Suchgräben Umfang und Größe der einzelnen Bauwerke festzustellen. Carter zeichnete Grundrisse und vermaß die Gegend, wobei er oft 50 Kilometer am Tag zurücklegte. Nach wochenlanger Arbeit präsentierte Howard Carter voll Stolz den ersten Stadtplan von Teil el-Amarna, das vor dreitausend Jahren Achetaton hieß.
»Phantastisch!« rief Petrie aus. »Damit machst du deinem Namen alle Ehre. Du solltest die Pläne der Altertümerverwaltung nach Kairo schicken.« Ein Bote brachte die Mappe nach Der Mauas zur Post, aber Carter wartete vergeblich auf ein Anerkennungsschreiben. Da traf ein Brief aus London ein: Petrie und seine Mannschaft wurden vom Egypt Exploration Fund abberufen. Seine Anwesenheit sei in Luxor dringend erforderlich. Im Tal der Könige sei der Teufel los. Der
Ausgräber tobte wegen der unsinnigen Anordnung, die an irgendeinem Londoner Schreibtisch ausgeheckt worden war. Carter sah Flinders Petrie ratlos an. Der klopfte ihm auf die Schulter: »Howard, du kommst mit. Du gehörst doch zu uns.«
Während die beiden den Weg zu ihrer Behausung antraten, meinte Petrie: »Keine Angst, wir kommen hierher zurück. Ich lasse nicht eher locker, bis ich hinter das Geheimnis dieses Ortes gekommen bin.« »Geheimnis?« fragte Carter neugierig. »Ja. Dieser Ort birgt ein Geheimnis, das spüre ich. Wenn ich alle Ausgrabungen und Funde der letzten Wochen betrachte, dann kommt es mir vor, als hätten wir eine ganz eigenständige Kultur vor uns. Sie paßt so gar nicht in das Bild des alten Ägypten. Jedenfalls glaube ich nicht, daß der vierte Pharao mit dem Namen Amenophis nur fünf Jahre regierte und von diesem Echnaton abgelöst wurde.« »Aber die Scherbenfunde nennen doch alle dieses Datum!«
Petrie seufzte: »Gewiß. Aber könnte es nicht sein, daß Amenophis und Echnaton ein und dieselbe Person sind? Wäre es nicht denkbar, daß dieser Pharao aus einem ganz bestimmten Grund seinen Namen änderte?« »Und welchen Grund sollte er dafür gehabt haben?« »Das könnten zum Beispiel religiöse Gründe gewesen sein. Die römischen Päpste erhalten auch einen neuen Namen, wenn sie gewählt sind.« Carter nickte, und Petrie fuhr fort: »Amenophis bedeutet soviel wie: Amun ist gnädig. Echnaton hingegen läßt sich etwa so übersetzen: Der dem Aton wohlgefällig ist. Beide Gottheiten aber schließen einander aus. Amun war das Oberhaupt eines Vielgötterhimmels, Aton galt als der einzige Gott.. .«
»Sie meinen«, unterbrach Howard, »dieser Pharao hat den alten Götterglauben aufgegeben und sich einer neuen Religion zugewandt?«
Petrie zog die Schultern hoch. »Vorläufig ist das meine Theorie; aber die Altertumswissenschaft lebt von Theorien -jedenfalls vorläufig.«
An der Nillände in Luxor drängten sich die Schiffe, vornehme Yachten mit Sonnendeck und Badekabinen und malerische Dahabijas, Nilschiffe mit spitzen dreieckigen Segeln, die von dem britischen Reiseagenten Thomas Cook für 60 bis 100 Pfund pro Monat verchartert wurden. Wer es sich irgendwie leisten konnte, Forscher oder reisefreudige Millionäre - manche waren beides -, der kaufte sich einen solchen Nilsegler und ließ ihn zu einem komfortablen Hausboot umbauen, das nahe der Ausgrabungs- oder Vergnügungsstätte dümpelte.
Das schönste Hausboot, weiß und mit hohen Seitenfenstern, gehörte Henry Sayce. Im verglasten Heck war eine Fachbibliothek mit mehr als 2000 Bänden untergebracht. Auch Charles Wilbour wurde, beeindruckt von der Bequemlichkeit des britischen Kollegen, zum Schiffseigner. Jacques Jean de Morgan verfügte über einen Schnelldampfer mit Konferenz- und Arbeitsraum. Kapitän Canaque konnte den neuen Chef der ägyptischen Altertümer in drei Tagen von Unter- nach Oberägypten befördern. Die übrigen Dahabijas gehörten ausnahmslos Amerikanern. Inzwischen schien es, als habe Amerika Ägypten entdeckt. Den Anstoß dazu hatte eine Vortragsreise der unermüdlichen Amelia Edwards in den Vereinigten Staaten gegeben. Bei dieser Gelegenheit hatte die Lady auch eine amerikanische Sektion des Egypt Exploration Fund gegründet und ebenso einflußreiche, wie zahlungskräftige Mitglieder geworben.
Der Post-Steamer stieß dumpfe Heultöne aus, es gelang ihm nur mit Mühe, an der übervölkerten Anlegestelle festzumachen, wo Morgan bereits wartete. Verwirrt von soviel Hektik und Trubel, blickten Flinders Petrie und seine Begleiter hilfesuchend von der Reling.