3. Oktober 1899. In der Dämmerung ritt Howard Carter auf seinem Esel hinaus nach Karnak. Die Tempelstätte vor den Toren von Luxor war in den letzten Jahren etwas vernachlässigt worden. Spektakuläre Entdeckungen hatte es nicht gegeben, die Aufgabe, das bereits Bekannte freizule -gen, war umfangreich genug und nahm nun schon hundert Jahre in Anspruch.
Carter band seinen Esel fest, nahm sein Gewehr und schritt durch den ersten Pylon des großen Amun-Tempels. Beim Durchgehen warf er einen Blick auf die Inschriften französischer Gelehrter aus Napoleons Armee, die vor hundert Jahren mit der Freilegung dieses größten ägyptischen Tempels begonnen hatten. Es bestand noch immer keine Aussicht, diese Arbeit zu vollenden. Über dem großen Hof hing der vergoldete Abendhimmel, die Widdersphingen zu beiden Seiten schienen sich von der Hitze des Tages auszuruhen. Ramses schritt über den zweiten Pylon, weitausholend.
Jedesmal, wenn Carter seine Schritte durch diesen Pylon in den großen Säulensaal lenkte, spürte er einen Schauder vor dieser unfaßbaren Größe. 134 Säulen, jede zehn Meter im Umfang, zwanzig Meter hoch, führten ihm drastisch seine eigene Winzigkeit vor Augen, ließen ihn kleiner und kleiner werden, unbedeutend.
Carter schreckte hoch. Ein fernes, unerklärliches Donnergrollen erregte seine Aufmerksamkeit. Während er in den Abend lauschte, vermeinte er ein Zittern und Vibrieren unter seinen Füßen zu spüren. Verunsichert starrte er in den gigantischen Säulenwald, da - er faßte sich an die Stirne, glaubte zu träumen, zu phantasieren - vor seinen Augen neigte sich einer der überdimensionalen Säulenkolosse ganz langsam zur Seite. Steinsplitter spritzten knallend vom Sockel, der innerhalb von Sekunden unter dem verlagerten Gewicht barst. Krachend lehnte sich die aus dem Gleichgewicht gekommene Säule an den benachbarten Stumpf, der erzitterte und, während eine gewaltige Staubwolke in den Abendhimmel schoß, seinerseits wankte, kippte, stürzte, gegen die nächste Säule fiel und unter infernalischem Donnern und Rumpeln eine Kettenreaktion auslöste, der insgesamt elf der massiven Kolosse zum Opfer fielen.
Der Staub raubte Carter den Atem, er hustete, die Augen tränten, und obwohl das Beben so schnell geendet hatte, wie es begonnen hatte, versuchte Howard Carter fluchtartig den Tempel zu verlassen. Er rannte zurück, prallte gegen eine Wand, rappelte sich hoch und entfloh durch den ersten Pylon ins Freie zu seinem Esel, der furchtbare Klagelaute von sich gab. Auf einem Säulenstumpf ließ er sich nieder, wischte mit der Hand über das Gesicht, als wollte er einen Alptraum abschütteln. Es dauerte eine ganze Weile, bis Carter realisierte, daß er das alles nicht geträumt hatte, daß auch kein Erdbeben das Niltal erschüttert hatte, sondern daß brüchiger Stein eines Fundaments diese unheimliche Kettenreaktion ausgelöst hatte. Und einen Augenblick erschien ihm das Naturereignis wie ein Aufbäumen der Vergangenheit vor der Gegenwart, die ihr kein Geheimnis mehr gönnen wollte.
Seit drei Jahren war die Nilüberschwemmung ausgeblieben. Im Herbst, wenn der Strom für gewöhnlich über die Ufer trat und das Tal mit fruchtbarem Schlamm überzog, war der Wasserstand kaum höher als das ganze Jahr über. Lebensmittel wurden knapp, und die Regierung faßte den Plan, oberhalb von Assuan einen Nil-Damm zu bauen, der eine gleichmäßige Bewässerung der Felder versprach. Der technische Aufwand für die größte Talsperre der Welt, zwei Kilometer breit sollte die Staumauer werden, führte jedoch zu einem offenen Konflikt zwischen England, das sich für die Wirtschaft Ägyptens verantwortlich fühlte, und Frankreich, in dessen Händen die kulturelle Oberhoheit lag. Die Altertümerverwaltung protestierte gegen diese Pläne, gaben sie doch die Nilinsel Philae mit ihren unersetzlichen Tempelbauten der Ptolemäer- und Römerzeit der Vernichtung preis. Die Welt lief Sturm gegen das Projekt. Unterstaatssekretär Sir William Garstin bat schließlich englische, französische und deutsche Ingenieure und Archäologen nach Assuan, um mit ihnen an Ort und Stelle alle Möglichkeiten zu erörtern. Unerwartet stimmten nun die Altertumsforscher und der französische Generalkonsul dem Damm-Bau zu; doch sie stellten drei Bedingungen: Alle Tempel auf Philae sollten einer generellen Renovierung unterzogen werden. Ein Damm um die gesamte Insel hatte die alten Tempel vor dem Wasser zu schützen, und die Regie -rung mußte das Versprechen abgeben, die Dammkrone nie zu erhöhen.
Unter den Ingenieuren befand sich ein junger Vermessungstechniker aus Berlin, der die ersten Berufsjahre seines Lebens mit dem Bau von Landstraßen und Hammelställen in Ostpreußen verbracht hatte. Ludwig Borchardts ganze Leidenschaft gehörte jedoch dem alten Orient, und wann immer es möglich war, machte er sich in der ägyptischen Abteilung des Berliner Museums nützlich, er studierte sogar ein zweites Mal und erforschte die Baugeschichte der Pyramiden und wurde zum Spezialisten für altägyptische Architektur. Die Akademie der Wissenschaften in Berlin meinte, Borchardt sei der ideale Mann, um die Insel Philae zu retten. Aber Ludwig Borchardt war nicht nur ein Theoretiker, bei Ausgrabungen in Abu Gurob erwies er sich auch als Mann des Spatens. Südlich von Kairo grub Borchardt das Sonnenheiligtum des Ne-user-Re aus der 5. Dynastie aus. Er lieferte nach den vorhandenen Mauerresten eine vielbeachtete Rekonstruktion. Sein spektakulärster Fund, Reliefs mit Szenen eines königlichen Jubiläums, wurden vereinbarungsgemäß geteilt und wanderten in die Museen von Kairo und Berlin.
Eigentlich war dieser Ludwig Borchardt ein ganz und gar untypischer deutscher Altertumsforscher. Franzosen und Engländer machten sich damals lustig über die sogenannte Deutsche Schule. Sie bestand in der Hauptsache aus Schreibtischarbeitern und stand damit in krassem Gegensatz zur Französischen Schule. Die Deutschen forschten in antiken Überlieferungen, analysierten Funde, aufgrund deren Ergebnisse sie gezielte Ausgrabungen unternahmen. Anders die Franzosen: Sie gruben munter drauflos, nicht gerade planlos, aber ohne wissenschaftliche Unterstützung. Die Folge: Letztere machten die spektakulären Entdeckungen, erstere leisteten die wertvollere Forschungsarbeit. Schon Mariette und Brugsch waren repräsentativ für diese unterschiedliche Auffassung von Forschungsarbeit gewesen. 1899 kehrte Ludwig Borchardt nach Berlin zurück; aber er wollte nicht in der Reichshauptstadt bleiben. Sein Herz gehörte dem Land der Pharaonen. Und während man sich in Museums- und Behördenkreisen Gedanken über die Verwendung des tatendurstigen Forschers machte, saß dieser nächtelang in einem Archivraum, ordnete und übersetzte Papyrusinschriften, die aus einem Fund bei Kahun stammten. Dabei handelte es sich um die Aktensammlung einer Tempelverwaltung.
Es ging auf Mitternacht zu, als Borchardt Besuch bekam. Kurt Sethe, ein jüngerer Kollege, versuchte den Forscher zu einer Bulette in einer der zahllosen Eckkneipen zu überreden.
»Laß mich in Frieden«, brummte Borchardt, »ich will endlich den Kram fertigkriegen.«
»Aber das hat doch wirklich bis morgen Zeit!« meinte der junge Sethe. »Es nimmt dir auch keiner die Arbeit weg.« Borchardt lachte: »Das will ich glauben. Ist nämlich kein besonders vergnügliches Unterfangen, die Kühe und Rinder, Äcker und Gärten der Tempeldomäne zusammenzuzählen.« »Also doch eine Bulette?«
»Meinetwegen!« Borchardt stand auf. Er schob den vor sich liegenden Papyrusteil beiseite, dabei kam ein unscheinbares zerfleddertes Stück Papyrus zum Vorschein, das seiner Aufmerksamkeit bisher entgangen war. »Was haben wir denn da?«