Der Amerikaner fand immer mehr Gefallen an dem Projekt. Die Vorstellung, er, Theodore Monroe Davis aus Newport, Rhode Island, könnte ein Königsgrab finden, vor dem Napoleon kapituliert hatte, ließ ihn innerlich wachsen. »Wir gehen daran!« sagte Davis bestimmt. Das war am 28. Februar 1903.
Die Installierung der elektrischen Beleuchtung erwies sich komplizierter als erwartet, inzwischen verrichteten die Männer ihre schweißtreibende Arbeit unter Tage bei Kerzenlicht. Schon am ersten Tag wurde klar, warum alle Ausgräber vor ihnen aufgegeben hatten: Dieser Stollen war nicht einfach freizuschaufeln, Regenwasser hatte einen Weg durch das morsche Gestein gefunden und den kalkhaltigen Schutt im Laufe von Jahrtausenden hart wie Mörtel werden lassen, Carter und seine Männer mußten ihn herausschlagen. Nach fünfzig Metern tat sich eine Kammer auf, aber auch hier waren die Wände ohne Zierde. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Ausgräber etwa zehn Meter unter dem Bodenniveau. Davis stieg nur noch jeden zweiten Tag in den Stollen, er litt unter Atemschwierigkeiten. »Nein, das kann nicht die Grabkammer gewesen sein«, beteuerte Carter, »so ganz ohne jeden Wandschmuck, ohne jede Inschrift!«
»Aber wo geht es weiter?« schnaufte Davis. »Nirgendwo an der Wand ist ein Durchbruch zu erkennen.« Howard Carter stampfte mit dem Fuß auf den Boden. »Hier«, sagte er, »ich glaube, es geht nach unten weiter.« »Auf welcher Seite wollen Sie anfangen?« Carter hob die Schultern. Da zog Davis eine Zehn-Piaster-Münze aus der Tasche: »Adler ist links, Kopf ist rechts!« Er warf das Geldstück hoch, hob es auf und zeigte es dem Ausgräber: »Kopf!«
Carter grub in der rechten Ecke nach unten und stieß tatsächlich auf einen weiteren Schräggang. Etwa hundert Meter hatte sich das Team jetzt in den Fels gewunden. Die Luft wurde immer knapper, Kerzen schmolzen vor Hitze, Arbeiter streikten, noch immer fehlte die elektrische Beleuchtung. Am 15. April brach Howard Carter die Arbeiten ab. Seine Leute, sagte er, würden keine Schaufel mehr anrühren, solange die Beleuchtungsfrage ungelöst sei. Während der folgenden Sommerpause wurden endlich die Leitungen gelegt. Feuerwehrmänner aus Luxor zogen Schläuche in den Stollen, durch die von oben Luft in das Grab gepumpt werden konnte. Am 15. Oktober nahm Carter die Arbeiten wieder auf.
Die ersten Tage verliefen erfolgversprechend; dann aber spitzte sich die Lage dramatisch zu. »Sir, es ist aussichtslos«, sagte Carter zu seinem Geldgeber, »die Kinder, welche den Schutt hochschleppen, brechen reihenweise zusammen.«
»Nehmen Sie erwachsene Männer. Zahlen Sie das Doppelte !«
»Auch die Arbeiter sind am Ende. Der Staub verklebt ihnen Mund und Nase. Sie können nicht mehr atmen!« »Ich gebe Ihnen die dreifache Menge. Teilen Sie Schichten von 15 Minuten ein. Das kann man aushaken!« Der besessene Kupfermagnat blieb unerbittlich. Da kam ihm der Zufall zu Hilfe. Als Carter kraftlos am Ende schien, stieß er, 60 Meter von der ersten entfernt, auf eine zweite Kammer, schmucklos wie die erste. Zielsicher grub er auf der rechten Seite den Boden auf und stieß auf zwei Steinstufen. Von hier führte der Stollen weiter im Rechtsbogen schräg nach unten.
Statt fester wurde das Felsgestein immer brüchiger. Ganze Wagenladungen brachen von der Decke, verschütteten Arbeiter. Rettungsmannschaften mußten sie freischaufeln. Davis zahlte Sonderprämien. Da, am 26. Januar 1904, tauchte eine dritte Kammer auf, auch sie vollgefüllt mit Schutt. Ein paar Augenblicke zweifelte Howard Carter: War dies die Grabkammer? Er befand sich nun 200 Meter im Fels. Dieser Stollen konnte doch nicht endlos in die Tiefe führen! Carter legte einen Suchgraben diagonal durch die Kammer an und stieß, wiederum auf der rechten Seite, auf eine Treppe. Von Stufe zu Stufe arbeiteten sich die Männer nach unten. Am Ende der Treppe versperrte eine Mauer den Weg. Es schien, als wäre sie eingestürzt. Doch nein - Carter faßte sich an den Kopf: In die Mauer war ein Loch gebrochen, ein Loch, so groß wie ein Wagenrad.
»Sagen Sie, daß es nicht wahr ist!« schrie der alte Davis immer wieder, nachdem Carter ihn in die Tiefe geschleift hatte. »Sagen Sie, daß es nicht wahr ist!« »Es ist wahr!« stammelte der Engländer hilflos, und er, der arme Kerl aus Kensington, der den Amerikaner ein Jahr lang ein Vermögen gekostet hatte, er schämte sich ob seiner Erfolglosigkeit. Denn in der Grabkammer, deren brüchiges Gewölbe drei Säulen abstützten, stand nur ein leerer Sarkophag, daneben lag ein Deckel, daneben ein zweiter Sarkophag, leer wie der erste. Sonst lag hier nur Schutt herum, staubiger, dreckiger, widerlicher, nutzloser Schutt. Carter traten Tränen in die Augen, Tränen der Wut, Tränen der Hilflosigkeit. Die Hieroglyphen am Sarkophag verschwammen zu unförmigen Gebilden, und es dauerte eine Weile, bis sie wieder klar vor ihm auftauchten. Das Entschlüsseln der Hieroglyphen war für ihn, den Autodidakten, ohnehin kein leichtes Unterfangen. Davis drängte: »Nun, wer ist es?« »Sie meinen: Wer wärest« antwortete Carter bitter. Dann zeigte er mit dem Finger auf einen Königsring und las stok-kend: »Hatschepsut Chnemetamun.« »Und der?« Davis macht eine Kopfbewegung in Richtung des zweiten Sarkophages.
»Thutmosis«, sagte Carter leise. »Vater und Tochter.« Dann stiegen beide schweratmend nach oben. »Wo mögen Thutmosis und Hatschepsut wohl hingekommen sein?« sinnierte Theodore Davis, als sie, oben angekommen, sich erschöpft unter einem Sonnensegel niederließen. »Wo die beiden heute sind?« Davis nickte stumm.
»In Kairo«, sagte Carter trocken, »genauer in Giseh.« Der Amerikaner sah seinen Ausgräber verständnislos an. »Ja«, antwortete Carter, »Thutmosis war unter den Kö-nigsmumien, die der alte Abd er-Rassul damals gefunden hat. Und eine Holzkiste trug den Namen Hatschepsuts. Nur leider lagen darin zwei weibliche Mumien. Eine davon ist wohl Hatschepsut.«
Für Theodore Davis, dem die Aufregung um das Hat-schepsut-Grab sehr zugesetzt hatte, war damit ein Kapitel Grabungsgeschichte beendet. Weigall und Ayrton begannen Sondierungen an anderer Stelle. Carter schlich sich noch wochenlang allein in den tiefen Stollen und versuchte den Boden der Sargkammer aufzugraben. Kein Mensch wußte von diesem heimlichen Unternehmen. Niemand ahnte, daß er oft bis tief in die Nacht bis zur Erschöpfung den Boden aufhackte und Berge von Gestein bewegte. Er wollte einfach nicht glauben, daß Grabräuber 213 Meter tief im Fels nichts übersehen hatten. Ende März gab er auf - erfolglos.
Das Haus mit dem breiten Säulenportal auf der Nilinsel Ge-sira galt seit langem als eine der besten Adressen in Kairo. Politiker und Diplomaten, Künstler, vor allem Archäologen aus aller Welt, gaben sich hier allzu gerne ein Stelldichein. Der Hausherr Ludwig Borchardt bekleidete offiziell den seltenen Rang eines wissenschaftlichen Attaches am deutschen Konsulat in Kairo. Selten deshalb, weil diese Planstelle eigens für ihn geschaffen worden war. »Und wie fühlen Sie sich bei uns in Kairo, Monsieur Bor-chardt?« fragte Gaston Maspero. Borchardt blickte in die Runde der namhaften Forscher und schmunzelte: »Ich bitte Sie, Monsieur, hier kann man sich wie zu Hause fühlen. Zugegeben, Kairo ist nicht Berlin, aber Kairo ist auch kein Kuhdorf. In der vergangenen Woche habe ich hier das erste Automobil fahren sehen. Natürlich so ein verrückter Engländer - wie King Eduard gekleidet.«
Flinders Petrie hüstelte verlegen: »Seine Majestät Eduard VII. gelten überall in der Welt als sportliches und modisches Vorbild - was man von Ihrem Wilhelm ja nicht gerade behaupten kann.«
»Aber meine Herren«, ging Maspero dazwischen, »wir wollen uns doch nicht um die modischen Accessoires unserer Kaiser und Könige streiten.« »Da können wir ohnehin nicht mithalten«, lachte der Amerikaner Theodore Davis, »Roosevelt als modebewußter König, ha, ha!«