Kurt Sethe blickte wie immer mürrisch vor sich hin und verzog keine Miene. Wie zur Entschuldigung erklärte Bor-chardt, sein Freund habe Schwierigkeiten mit seinem Nachbarn.
Nachbarn? Alle sahen Borchardt fragend an. »Er kann nun einmal diesen Naville nicht leiden. Sie hassen sich wie die Pest. Dabei graben sie in Der el-Bahari nebeneinander; aber sie sind nun einmal sehr verschieden. Ich glaube, sie haben miteinander noch kein einziges Wort gewechselt.« »Mit diesem Herrn verkehre ich nur schriftlich!« meinte Sethe, er erhob sich und blickte mit auf dem Rücken verschränkten Armen aus dem Fenster auf den Nil. »Und wenn er heute hier anwesend wäre, dann müßten Sie auf meine Gegenwart verzichten.«
»Das geht nun schon ein paar Jahre so«, erklärte Bor-chardt, »und nur, weil sie sich über einige Details im Leben der Königin Hatschepsut nicht einigen können. Verrückt ist das, ich kann nur sagen, verrückt. Keiner läßt eine Gelegenheit aus, den anderen mit irgendwelchen Veröffentlichungen herabzusetzen. Wie kleine Jungen.« Sethe sagte beleidigt: »Ich kann gerne meine Koffer pakken, wenn es gewünscht wird . . .« »Davon kann doch keine Rede sein«, versuchte Maspero einzulenken, »dieses Jahrhundert hat für uns so vielversprechend begonnen, wir brauchen jeden Mann.« Borchardt erkundigte sich nach den neuesten Ergebnissen, und Maspero berichtete mit sichtlichem Stolz, der Italiener Ernesto Schiaparelli habe das Grab der Königin Nefertari, der Frau des großen Ramses, gefunden, ausgeraubt zwar, aber mit prächtigen, guterhaltenen Wandmalereien. »Wie ist das eigentlich, Mister Petrie«, erkundigte Bor-chardt sich, »haben Sie vor, in Amarna weiterzugraben?« Der Engländer versuchte, um eine Antwort herumzureden, erklärte, das Nildelta nehme ihn voll in Beschlag, aber später würde er vielleicht wieder einmal.. . »Es ist nämlich so«, unterbrach ihn Borchardt, »wir Deutschen würden gerne in Amarna arbeiten. Die bereits freigelegten Häuser- und Palastgrundrisse haben mich auf die Idee gebracht, uns mit der Architektur dieser Ortschaft auseinanderzusetzen. Was meinen Sie, Monsieur Maspero?« Der sah Petrie fragend an, und als der Engländer nicht reagierte, sagte Maspero: »Nichts dagegen, ein lobenswertes Vorhaben.«
»Die Deutsche Orientgesellschaft würde die Kosten übernehmen. Hinter ihr steht ein hochherziger Spender.« »Wenn Sie so erfolgreich sind wie bei der Rettung von Philae, dann kann man Ihnen schon jetzt gratulieren, Monsieur. Viele sagen, die Tempelinsel präsentiere sich dem Betrachter seit Errichtung des Staudammes schöner als je zuvor.«
»Ich werde eine gute Mannschaft zusammenstellen, ich denke an etwa hundert Arbeiter.«
»Hundert Arbeiter? Das ist ein hoher Aufwand. Und Ihre Bedingungen ?«
»Keine.«
»Sie wissen, daß erstrangige Funde nicht mehr außer Landes gebracht werden dürfen!«
»Wir graben nicht nach Schätzen, wir suchen die altägyptische Architektur zu ergründen. Wenn dabei die eine oder andere Kleinigkeit abfällt, die wir unserem Geldgeber zum Präsent machen können . . .« »Also gut, Borchardt, Sie erhalten die Konzession. Aber alle erstrangigen Funde gehen an das Museum in Giseh. Bei zweitrangigen Stücken erfolgt eine Teilung nach Absprache.«
»Einverstanden!« rief Ludwig Borchardt, und Maspero hob sein Glas: »Auf gutes Gelingen!«
An einem Seil hängend, klopfte Edouard Naville die steile Felswand von Der el-Bahari ab. Die helltönenden Hammerschläge hallten durch das ganze Tal. Zweck des gefährlichen Unternehmens war es, im Felsgestein Spuren künstlicher Bearbeitung zu entdecken. Der dicke Naville schlug das Werkzeug in jede Spalte, Steinsplitter spritzten aus der Wand und polterten in die Tiefe.
»He da«, rief Naville und gab den im Tempel beschäftigten Arbeitern ein Zeichen, auf die andere Seite auszuweichen.
Eine gewaltige Felsnase erregte das besondere Interesse des Forschers. Irgendwie sah der Stein aus wie ein riesiger Propfen, den man auf eine Öffnung gesetzt hatte. Naville schlug die Spitze seines Hammers in einen seitlichen Spalt, doch als er das Werkzeug wieder herausziehen wollte, saß es fest.
Am Seil baumelnd, spreizte sich Naville mit beiden Beinen ein und versuchte mit ganzer Kraft, den Hammer herauszuziehen. Ein Ruck - er hatte den Hammer in der Hand; doch gleichzeitig löste sich die Felsnase, so groß wie ein Mühlstein, schürfte an seiner Hüfte entlang und sauste an den Felswänden mit Krachen in die Tiefe. An einem Vorsprung aufschlagend, kam der Steinkoloß ins Rotieren, sprang noch einmal auf und machte einen gewaltigen Satz über die erste Galerie des Tempels, geradewegs auf die Holzhütte zu, die Naville für sich und seine Frau über einem ausgeraubten Grab errichtet hatte, weil es für Kühle sorgte. Naville sah das Unglück kommen; aber er brachte keinen Laut hervor. Rufen wäre auch zwecklos gewesen, das alles dauerte nur Sekunden. Als der schwere Felsbrocken das Blechdach der Hütte durchschlug und mit einem lauten Knall zwischen berstenden Balken und Brettern verschwand, schloß Naville für einen Moment die Augen. Als er sie wie -der öffnete, sah er im Tal eine einzige, schmutzige Staubwolke.
Er ließ das Seil durch seine Hand laufen, daß die verbrannte Haut stank, unten angekommen hetzte er, die Arbeiter beiseite stoßend, auf die zerstörte Hütte zu. »Marguerite! Marguerite!« schrie er verzweifelt. Der Staub nahm ihm die Sicht, er stolperte über herumliegende Trümmer, rappelte sich hoch - da stand vor ihm eine kleine Gestalt, auf den Armen Marguerite: Sethe.
»Es ist ihr nichts passiert«, hustete Sethe, »Sie können ganz beruhigt sein.«
Naville wischte Marguerites Tränen mit bloßen Händen ab und schlug den Staub von ihrem Kleid. »Es ist nichts passiert«, stammelte sie in ihrem Schock immer wieder, »es ist wirklich nichts passiert!«
In der Aufregung hatte Naville Ali ganz vergessen, den einheimischen Koch. »Mein Gott«, rief er plötzlich, »wo ist Ali?« Dann lief er auf die Trümmer der Hütte zu. »Ali!« wiederholte er. »Kannst du mich hören?« Ihm war, als hätte er eine Antwort gehört. »Ali!« rief Naville immer wieder. Ein paar Arbeiter eilten herbei und halfen, Balken und Trümmer beiseite zu räumen.
Da war Alis Stimme. »Unten im Keller!« sagte Naville. Vorsichtig entfernten die Männer das Gebälk von der Treppe, die in das Grab führte. Der Felsen hatte die Decke durchschlagen und Ali mit all seinen Kochutensilien in die Tiefe gerissen. Dort saß er lächelnd, eine kleine Schramme über dem linken Auge.
Als Marguerite das ganze Ausmaß der Katastrophe erkannte, begann sie zu toben. Naville und Sethe führten sie gemeinsam zum Ausgräberhaus des Deutschen. »Ich will nach Hause«, schrie Marguerite in einem fort, »mir ist mein Leben lieber als dieser gottverdammte Tempel der Hatsche-psut!« Naville versuchte, seine Frau zu beruhigen. Aber kaum hatte er sie überzeugt, daß es sich um einen Unfall gehandelt habe und ihnen überall ein Unglück widerfahren könne, da fragte sie: »Und wo sollen wir wohnen?« Sethe schluckte. Man konnte ihm ansehen, daß er irgend etwas Bedeutsames sagen wollte. Schließlich meinte er: »Sie können ja hierbleiben, wenn Sie wollen. Im Haus ist genug Platz. Nur eine Bedingung: Wir reden nie über Hatschepsut!«
Naville nahm Sethes Hand und drückte sie stumm.
Theodore Davis grub weiter im Tal der Könige; aber ohne Howard Carter. Der hatte sich mit seiner bewaffneten Wächtertruppe so viele Feinde geschaffen, daß es ihm kaum noch möglich war, Arbeitskräfte anzuwerben. »Mit Carter? No«, sagten die Fellachen. Was blieb Maspero anderes übrig, als ihn nach Unterägypten zu versetzen? In Sakkara wachte er nun über den unterirdischen Serapis-Tempel. James Quibell nahm seine Stelle in Luxor ein und grub zusammen mit Weigall weiter. Quibell hatte Glück. Unmittelbar am Tal-Eingang entdeckte er eine Steintreppe, untrügliches Kennzeichen für einen Grabzugang. In wenigen Metern Tiefe versperrte eine Mauer den Weg, doch groß war die Enttäuschung: In der Mauer klaffte ein Loch. Man beschloß, zunächst den jüngsten Träger an den Füßen in die Maueröffnung zu halten, um zu sehen, was sich hinter der Mauer verbarg. Der Junge schrie fürchterlich, er hatte Angst, aber als Weigall ihn wieder nach oben zog, da hielt er einen kunstvoll verzierten Stab, einen Skarabäus, und ein Paar Sandalen in den Händen. Es liege da noch mehr herum, sagte er, lehnte es aber ab, sich noch einmal für ein solches Unternehmen zur Verfügung zu stellen.