Der Tatbestand war ungewöhnlich. Bisher hatte man meist Gräber gefunden, die ausgeraubt und danach zum Schein wieder verschlossen worden waren. Hier war der Einbruch schon von außen sichtbar, aber das Innere barg noch unbekannte Schätze.
»Das sieht mir ganz danach aus«, meinte Maspero, der am nächsten Tag zusammen mit Davis auf dem Esel ins Tal ritt, »als seien die Räuber bei ihrem Vorhaben gestört worden.« »Viel wird es wohl nicht sein, was sie zurückgelassen haben«, antwortete Davis, »sonst wären sie sicher noch einmal zurückgekommen.« Maspero lachte: »Wer weiß?«
Nach Besichtigung der Mauer stiegen Davis und Maspero in den Stollen hinab. Eine zweite Wand nach wenigen Metern war schnell überwunden, dann wurde es zur Gewißheit. Die Grabräuber hatten nicht die Möglichkeit gehabt, das Grab vollständig auszuräumen, und aus diesem Grund sperriges Mobiliar und Geschirr zurückgelassen. Von Wandinschriften waren die Grabbewohner den Ausgräbern bereits bekannt: Juja und Tuja, die Schwiegereltern Amenophis' III. Davis deutete auf zwei Holzkisten. Maspero nickte. Beide hatten den gleichen Gedanken. Maspero hob vorsichtig den Deckel der ersten Kiste. Vor ihnen blinkte ein goldener Mumiensarkophag. Als er auch diesen abhob, schaute er in das würdevolle Antlitz eines alten Mannes. Dünne weiße Haare umspielten eine hohe Stirne, die Augen waren geschlossen wie zum frommen Gebet. Noch nie hatte Maspero in ein derart lebensechtes, unverhülltes Mumiengesicht geblickt. Nicht anders in der zweiten Holzkiste. In ihr lag Tuja, eine Frau mit aschfahlem langem Haar und zierlichem Gesicht.
Nach langen Beratungen kamen Maspero und Davis überein, sowohl die Grabausstattung als auch die beiden Mumien nach Giseh ins Museum zu bringen. Sie in ihrem Grab zu belassen, schien, wie sich gezeigt hatte, zu riskant. Vorberei-tung und Verpackung nahmen drei Wochen in Anspruch. Am Tag vor der Verladung hielt sich Quibell allein im Grab auf, als er von draußen Stimmen hörte. Sie redeten französisch. Soweit Quibell hören konnte, sprach ein Mann eine alte Dame mit »Hoheit« an. Und da standen sie plötzlich vor ihm, eine würdige 80jährige Dame am Stock und ihr Diener.
»Madam!« sagte Quibell höflich. »Dieses Grab wurde gerade erst entdeckt, es ist noch nicht zur Besichtigung für die Öffentlichkeit freigegeben.«
»Ich weiß, ich weiß«, antwortete die resolute alte Dame, und mit einem Blick auf den kunstvollen alten Stuhl, den Quibell zu verpacken gerade im Begriff war, sagte sie: »Sehr liebenswürdig, Monsieur!«, nahm das kostbare Stück und setzte sich pustend darauf, noch bevor der Engländer irgend etwas sagen konnte.
Während die vornehme Dame, beide Hände auf den Stock gestützt, den Blick in die Runde gleiten ließ, starrte Quibell auf den unersetzlichen Stuhl und überlegte krampfhaft, wie er die Frau zum Aufstehen bewegen konnte. »Das letzte Mal war ich hier im Tal nach der Einweihung des Suezkanals«, begann sie zu erzählen, »aber da waren Sie vermutlich noch gar nicht auf der Welt, ich hatte ein paar Falten weniger und ein paar Verehrer mehr. O dieser Khe-dive Ismail!« Sie kicherte in sich hinein. »Damals hatte ich die schönste Yacht im Mittelmeer, heute muß ich froh sein, wenn ich ein Ticket auf einem Liniendampfer bekomme. Haben Sie Mariette und Brugsch gekannt? Tolle Burschen!« Quibell schüttelte den Kopf, er überlegte. Auf einmal fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Vor ihm saß Eugenie, die Ex-Kaiserin der Franzosen. Nach der Niederlage von Se-dan und der Gefangennahme ihres Mannes Napoleons III. war sie nach Großbritannien geflohen. Dort lebte sie seither unter dem Namen Gräfin von Pierrefonds. »Sie können sie auch gar nicht gekannt haben«, nahm die
Ex-Kaiserin ihre Rede wieder auf, »aber ich habe sie gekannt - beide. Tolle Burschen, sage ich Ihnen!« Die Gräfin erhob sich, grüßte mit einem dezenten Kopfnicken und verschwand. Beim Treppensteigen hörte Quibell noch, wie sie murmelte: »Tolle Burschen, die zwei.«
Maspero schlug mit beiden Händen auf den Tisch: »Aber warum in aller Welt sind Sie nur so stur! Sie entschuldigen sich beim französischen Konsul, und alles hat seine Bewandtnis.«
Howard Carter blickte ernst: »Ich wüßte nicht, wofür ich mich zu entschuldigen hätte. Ich habe meine Pflicht getan, mehr nicht.«
»Carter«, sagte Maspero mit Nachdruck, »Sie sind einer unserer fähigsten Männer, das wissen Sie so gut wie ich. Sie haben eine große Zukunft in diesem Land. Aber wenn Sie auf das Entschuldigungsverlangen des Konsuls nicht eingehen, bekomme ich große Schwierigkeiten. Dann gibt es keine andere Möglichkeit, ich muß Sie entlassen.« Ein paar Tage zuvor hatte eine Horde betrunkener Touristen, es waren allesamt Franzosen, versucht, ohne Eintrittskarten in den Serapis-Tempel einzudringen. Es kam zum Streit mit den Wächtern. Die riefen Inspektor Carter zu Hilfe, und der forderte sie auf, sich zu verteidigen. Bei den folgenden Auseinandersetzungen wurde ein Franzose nie -dergeschlagen. Als sie wieder nüchtern waren, beschwerten sich die Touristen beim Generalkonsul über die unziemliche Behandlung. Der Konsul wurde höchstoffiziell und forderte eine Entschuldigung.
»Herrgott«, schimpfte Maspero, »dann bleibt mir keine andere Wahl. Ich suspendiere Sie hiermit von Ihrem Dienst. Die schriftliche Kündigung folgt nach.« Carter zuckte mit den Schultern, drehte sich um und ging grußlos. Er war nicht einmal besonders traurig; denn geliebt hatte er Unterägypten nie, geliebt hatte er nur das Tal.
Ludwig Borchardt kam mit großem Aufgebot. Er brachte den Archäologen Hermann Ranke mit, zwei Berliner Regie -rungsbaumeister, einen Regierungsbauführer, einen Vermessungstechniker, einen Koch, einen qualifizierten Vorarbeiter und hundert Hilfsarbeiter. Vor dem Grabungshaus, das Bor-chardt schon im Vorjahr hatte errichten lassen, wurde die schwarz-weiß -rote Flagge aufgezogen. Teil el-Amarna war fest in deutscher Hand.
Auch wenn sich seit Flinders Petrie keine Ausgräber mehr nach Teil el-Amarna verirrt hatten, so war die Forschung doch nicht stehengeblieben. Vor allem die in weitem Umkreis verstreuten Felsinschriften mit den Gründungsurkunden der Stadt hatten zu der zwingenden Erkenntnis geführt, daß es sich bei Achetaton, so der alte Name der Stadt, um eine ehemalige Residenz- und Hauptstadt Ägyptens handelte. Echnaton hatte die Stadt im Zuge einer Glaubensreform mitten in der Sandwüste errichtet, eine Generation lang war sie Hauptstadt gewesen, nach seinem Tod wurde die Metropole von allen Bewohnern verlassen, und sie verfiel innerhalb weniger Jahre.
Gleich am ersten Tag stießen Borchardts Ausgräber beim Legen von Suchgräben auf eine merkwürdige Kalksteinskulptur, sie schien roh und unvollendet und warf die Frage auf, ob man nicht im Atelier eines Bildhauers gelandet sei; denn ein winziger Elfenbeindeckel trug die Aufschrift: »Oberbildhauer Thutmosis«.
»Na, dann sehen wir uns das Haus des Oberbildhauers doch einmal näher an!« meinte Borchardt und gab Auftrag, weitere Suchgräben durch dieses Areal zu legen. Innerhalb weniger Tage tauchten Grundmauern aus dem Sand, die Wohn-, Schlaf- und Arbeitsräume vermuten ließen. Und da man immer mehr Gefäßscherben, Werkzeuge und Porträtmasken fand und weil der Boden sich unerwartet fruchtbar zeigte, ließ Borchardt tiefer graben, als es für die Aufnahme von Grundrissen erforderlich war.
Eine kleine Kammer, nicht viel größer als zehn Quadratmeter, schien der interessanteste Raum des ganzen Hauses zu sein. Hier tauchten kleine Modellbüsten auf, aus Gips modellierte Hände des Königs Echnaton und seiner schönen Frau Nofretete. Ganz offensichtlich war dies die Modellkammer im Atelier des Künstlers. Kurz nach 13 Uhr, Borchardt hielt gerade Siesta, kam ein Junge gelaufen und überreichte ihm einen Zettel, auf dem stand: »Dringend! Lebensgroße, bunte Büste in Haus P 47! Ranke.«