Die Forscher hatten für ihre Arbeit Teil el-Amarna in Planquadrate eingeteilt, von links nach rechts Buchstaben, von oben nach unten Zahlen. In P 47 lag das Atelier des Oberbildhauers Thutmosis. Borchardt machte sich auf den Weg. Professor Ranke empfing ihn schweigend. Wortlos zeigte er auf einen Trichter im Boden. In ein Meter Tiefe ragte der schlanke Hals einer Frau aus dem Schutt. Borchardt rutschte in den Erdtrichter hinab und versuchte das seltsame Fundstück aus dem Boden zu ziehen. Vergeblich. Da räumte er vorsichtig mit bloßen Händen den Schutt beiseite. Ein schmales Kinn kam zum Vorschein, ein Mund, ein Gesicht wurde lebendig, aber noch immer war die Büste nicht zu bewegen. Kein Wunder, denn der Kopf steckte in einer überdimensionalen Kappe, der typischen Königinnenkappe. Bange Minuten vergingen, bis auch die Kappe freigeräumt war, dann hob Ludwig Borchardt das kostbare Stück aus dem Sand. Kein Zweifel, das war sie, die Königin von Achet-aton: Nofretete.
Ohne Aufsehen zu erregen wurde Nofretete in das Grabungshaus gebracht. Spät, nach Mitternacht, saß Borchardt, der nüchterne Planer und Architekt, bei Kerzenschein allein in seinem Zimmer, vor sich diese lebendige Büste der Königin, das edle, tadellose Profil, und es schien ihm, als bewegten sich ihre Lippen, als formten sie die Frage: »Warum hast du mich nicht in Ruhe gelassen - dort, wo ich war, im Schutt der Jahrtausende?«
Und Borchardt, zwischen Traum und Wirklichkeit, antwortete beinahe andachtsvolclass="underline" »Weil es glücklich macht, nach den Anfängen zu forschen. Wir können dieses unser Leben nur dann verstehen, wenn wir unsere Anfänge kennen. Und hier, auf diesem Boden, liegen die Anfänge unserer Kultur.«
»Was ist Kultur?« »Kultur ist die Pflege, Verbesserung und Veredelung unserer leiblichen, seelischen und geistigen Anlagen und Fähigkeiten.«
»Und das macht Euch glücklich?« »Das ist das Leben.«
Borchardt wollte gerade selbst eine Frage formulieren, da erwachte er aus seinem Traum, und die Wirklichkeit holte ihn ein. Morgen, so fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, morgen würde er diese bedeutsame Entdeckung der Altertümerverwaltung in Kairo melden müssen. Boten würden sie abholen, und Nofretete, seine Nofretete, würde für immer für ihn verloren sein.
Da nahm der Forscher die Büste und trug sie vorsichtig wie eine Geliebte in den angrenzenden Lagerraum. Dann hüllte er sie in Stoffetzen, öffnete eine Holzkiste und legte sie hinein. Über das Bündel streute er Tonscherben und Bruchstücke von anderen Funden bis zum Rand. Auf den Deckel schrieb er mit roter Kreide: »Königliche Museen Berlin. Bruchstücke.« Anschließend legte er sich zur Ruhe; aber in dieser Nacht konnte Ludwig Borchardt keinen Schlaf mehr finden.
Im Tal eilte Davis von Erfolg zu Erfolg. Mit seinem Archäologen Edward Ayrton entdeckte er die Gräber von Thutmosis IV. und König Siptah.
»Sehen Sie nur!« sagte Ayrton, der gerade aus einem Erdtrichter hervorkroch und nach oben auf die Felsenklippen deutete. Dort beobachtete Howard Carter das Geschehen im Tal aus sicherer Entfernung.
»Armer Kerl«, brummte Davis und quetschte seine Zigarette mit dem Fuß aus, »wovon lebt er eigentlich?« Ayrton hob die Schultern: »Es geht ihm ziemlich dreckig. Die Leute erzählen, daß er in dem Grab wohnt, in dem schon der alte Brugsch hauste und Aquarelle vom Tal macht und sie an die Touristen verkauft.«
Davis fuchtelte mit den Armen in der Luft herum, Carter solle herunterkommen. Der verstand. »Es ist nicht sehr ermutigend«, sagte Ayrton und deutete auf den Erdtrichter, »wir entdecken ein Grab nach dem anderen, aber jedes ist ausgeraubt. Ich glaube nicht, daß es uns noch jemals vergönnt sein wird, ein unberührtes Pharaonen-grab zu finden.«
»Und dieser Pharao Haremhab?« - Davis deutete auf das Erdloch - »War er ein bedeutender König?« »Nein, ganz gewiß nicht«, antwortete Ayrton, »auch wenn man dies von den Ausmaßen des Grabes her vermuten könnte.«
Während sich Carter vom Kamm her näherte, machte Ayrton Anstalten, in dem neuentdeckten Grab zu verschwinden, in das er schon 50 Meter schräg nach unten vorgedrungen war. Ein zehn Meter tiefer Fallschacht hatte ihn aufgehalten. Ihn wollte er nun mit Hilfe einer Leiter, die er in dem niedrigen Gang hinter sich herzog, überwinden. Aber länger als zehn Minuten konnte es kein Mensch in der stickigen Luftt dort unten aushaken.
»Mister Carter!« Theodore Davis begrüßte seinen ehemaligen Grabungsleiter freundlich. »Wie verbringen Sie Ihre Tage?«
Der machte eine unwillige Handbewegung und sagte:
»Mehr schlecht als recht. Aber man läßt sich nicht unterkriegen. Ich habe mich meines erlernten Berufes erinnert und male bunte Bildchen für die Touristen.«
»Und wie geht das Geschäft?«
Carter verzog die Mundwinkeclass="underline" »Wenn ich ehrlich sein darf - schleppend.«
»Sie könnten doch für mich malen? Ich meine, für mich ganz privat, ein paar Ansichten vom Tal der Könige. Es braucht ja niemand zu wissen!«
Howard Carter verstand. Der alte Davis handelte aus Mitleid, aber er wollte keine Schwierigkeiten mit Maspero be-kommen. Am liebsten hätte er den Auftrag abgelehnt; aber dann dachte er daran, daß er auch irgendwann wieder etwas essen mußte, und er versprach, in den nächsten Tagen eine Auswahl vorzulegen.
»Aber ich möchte nicht, daß Maspero Sie sieht!« sagte Theodore Davis. Carter nickte und verschwand. Ayrton kam schwer atmend aus dem Erdloch hervor. Davis sah ihn fragend an, aber der schüttelte nur den Kopf. Auch im Grab des Haremhab gab es nichts mehr zu entdeken.
Nur einen Steinwurf entfernt tat sich, zunächst unter grobem Geröll verborgen, ein Schacht auf. Winterregen hatten ihn im Laufe von Jahrhunderten mit Schlamm aufgefüllt. Und da Davis und seine Männer nichts unversucht ließen, schaufelten sie auch dieses Erdloch in mühsamer Arbeit frei. In acht Meter Tiefe stießen sie auf ein zerbrochenes Kästchen, das jedoch drei dünne Goldplättchen enthielt. Auf den Goldplättchen waren Hieroglyphen eingraviert. Ayrton entschlüsselte die Schriftzeichen als die Namen von Tut-ench-Amun und seiner jungen Frau Anches-en-Amun. Allgemeine Ratlosigkeit machte sich breit. Der Schacht endete auf gewachsenem Fels. Um ein Grab konnte es sich dabei nicht handeln.
Zwei Tage später schienen die Ausgräber einer Lösung nähergekommen zu sein: Eine weitere Grube, ein paar Meter entfernt, gab einfaches Geschirr, Tonkrüge, vertrocknete Girlanden und Säckchen mit Natron frei, wie es beim Mumifizieren Anwendung fand. Ein Fetzen Leinwand, der über einen der Krüge gestülpt war, trug die Aufschrift »Jahr 6 des Tut-ench-Amun«. »Darf man gratulieren?«
Davis drehte sich um. Am Rand des Erdtrichters stand Carter. »Ich habe ein paar Bilder für Sie gemalt«, sagte er verlegen, als er die bescheidene Ausbeute der Grabung sah. »Gratulieren, wozu?« sagte Davis mürrisch. »Wir sind zufällig auf das Grab dieses vergessenen Pharaos gestoßen - wie war sein Name? - Tut-ench-Amun.«
»Diese Grube da?« Carter schien entsetzt.
Davis zuckte mit den Schultern. »Ein bedeutsamer Pharao war es ohnehin nicht. In den Königslisten ist nicht einmal sein Name aufgeführt.«
»Aber das hier«, wandte Carter ein, »ist doch nie im Leben ein Pharaonengrab.«
»Was ist es denn sonst«, meinte Ayrton, »die Krüge, die Girlanden, das Natron - alles typische Grabbeigaben!« »Ich fürchte«, sagte Theodore Davis, »daß damit das Tal der Könige restlos erforscht ist.« Ayrton erschrak. »Soll das heißen, Sie geben auf?« »Was heißt aufgeben? Wir haben alles entdeckt, was es zu entdecken gab, sechzehn Gräber in sechs Jahren, allein sie -ben Gräber mit Inschriften. Glauben Sie ernsthaft, daß dieses Tal noch irgendein Geheimnis bergen könnte?« Carter blickte sich um. Die schroffen Felswände, die endlosen Geröllhalden, stickige Luft und flirrende Hitze, das alles war ihm zur Heimat geworden. Und er wußte, daß er ein Leben lang von diesem Ort nicht loskommen würde.