»Hast du ihn denn verwirklicht?«
»Zu Anfang bin ich ungeduldig gewesen; lernen, arbeiten, lesen, schreiben, dem Unterricht zuhören, der den Geist öffnet, Kenntnis erlangen von allem, was es gibt, was der Schöpfer gestaltet hat, was Thot übertragen hat, vom Himmel mit seinen Gewalten, der Erde und ihrem Gehalt, was die Berge verstecken, was die Fluten tragen, was auf dem Rücken der Erde wächst[28] … Welch Verdruß! Zum Glück bin ich rasch ein häufiger Gast der Häuser des Bieres geworden.«
»Der Stätten von Ausschweifungen?«
»Sei kein Tugendprediger, Paser.«
»Du liebtest die Schriften mehr als ich.«
»Ach, die Bücher und die weisen Lebensregeln! Fünf Jahre liegt man mir nun schon damit in den Ohren. Wenn du willst, kann ich ebenfalls den Lehrer spielen: ›Liebe die Bücher wie deine Mutter, nichts übertrifft sie; die Bücher der Weisen sind deine Pyramiden, das Schreibzeug ist ihr Kind. Höre auf die Ratschläge weiserer Männer, als du es bist, lies ihre in den Büchern lebendig gebliebenen Worte; werde zu einem gebildeten Manne, sei weder faul noch müßig, lege das Wissen in dein Herz.‹ Habe ich den Merkspruch richtig aufgesagt?«
»Er ist herrlich.«
»Trugbilder für Blinde!«
»Was ist heute abend geschehen?« Sethi brach in Lachen aus. Der unruhige und umtriebige Knabe, der lustige Vogel des Dorfes, war ein Mann mit beeindruckenden Schultern geworden. Mit seinen langen, schwarzen Haaren, dem aufrichtigen Gesicht, dem offenen Blick und seinen großen Reden schien er von einem verzehrenden Feuer beseelt zu sein.
»Heute abend habe ich eine kleine Feier ausgerichtet.«
»In der Schule?«
»Ja, ja, in der Schule! Die meisten meiner Mitschüler sind blaß, trübselig und keine Persönlichkeiten; sie hatten es einmal nötig, Wein und Bier zu trinken, um ihre teuren Studien zu vergessen. Wir haben Musik gemacht, wir haben uns berauscht, wir haben erbrochen und gesungen! Die besten Schüler haben sich auf die Bäuche getrommelt und sich mit Blumenketten geschmückt.« Sethi richtete sich auf.
»Diese Belustigungen haben den Aufsehern mißfallen; sie sind mit Stöcken bei uns aufgetaucht. Ich habe mich verteidigt, aber meine Genossen haben mich verraten. Ich habe fliehen müssen.« Paser war niedergeschmettert. »Du wirst aus der Schule ausgeschlossen.«
»Um so besser! Ich bin nicht dazu geschaffen, Schreiber zu werden. Niemandem Schaden zuzufügen, niemandes Herz zu beschweren, andere nicht in Armut und Leid zu lassen … Ich überlasse diesen Wunschtraum den Weisen! Ich brenne darauf, ein Abenteuer zu erleben, Paser, ein großes Abenteuer!«
»Welches?«
»Ich weiß noch nicht … Doch, ich weiß schon: das Heer. Ich werde reisen und andere Länder, andere Völker entdecken.«
»Du wirst dein Leben wagen.«
»Es wird mir nur um so kostbarer sein, nach der Gefahr. Weshalb ein Dasein aufbauen, wenn der Tod es doch zerstören wird? Glaube mir, Paser, man muß Tag um Tag leben und die Freuden dort genießen, wo sie sich ergeben. Wir, die wir weniger als ein Schmetterling sind, wir sollten uns wenigstens darauf verstehen, von Blume zu Blume zu fliegen.« Brav knurrte.
»Jemand nähert sich; wir müssen fort.«
»Mir dreht sich alles.«
»Stütz dich auf mich.«
»Du hast dich nicht geändert, Paser. Du bist noch immer ein Fels.«
»Du bist mein Freund, ich bin dein Freund.« Sie verließen den Speicher, schlichen an dessen Außenwand entlang und begaben sich in den Irrgarten der Gäßchen.
»Sie werden mich nicht finden, dank dir.« Die Nachtluft ernüchterte Sethi. »So, nun bin ich kein Schreiber mehr. Und was bist du?«
»Ich wage kaum, es dir zu gestehen.«
»Solltest du von den Ordnungskräften gesucht werden?«
»Das gerade nicht.«
»Schmuggler?«
»Auch nicht.«
»Nun, dann plünderst du ehrbare Leute aus!«
»Ich bin Richter.«
Sethi hielt inne, packte Paser an den Schultern und blickte ihm gerade in die Augen. »Du machst dich über mich lustig.«
»Dazu bin ich gar nicht imstande.«
»Das ist wahr. Richter … Bei Osiris, das ist unglaublich! Läßt du Schuldige festnehmen?«
»Ich habe das Recht dazu.«
»Niederer oder hoher Richter?«
»Niederer, aber in Memphis. Ich nehme dich mit zu mir; dort wirst du in Sicherheit sein.«
»Verletzt du nicht das Gesetz damit?«
»Gegen dich ist keine Klage eingereicht worden.«
»Und falls es eine gäbe?«
»Die Freundschaft ist ein heiliges Gesetz; wenn ich Verrat an ihr beginge, würde ich meines Amtes unwürdig.«
Die beiden Männer umarmten sich. »Du wirst immer auf mich bauen können, Paser; das schwöre ich bei meinem Leben.«
»Du wiederholst dich nur, Sethi; an jenem Tag, als wir im Dorf unser Blut vermischt haben, sind wir weit mehr als Brüder geworden.«
»Sag einmal … Hast du Ordnungshüter unter deinem Befehl?«
»Zwei: einen Nubier und einen Pavian, der eine so furchterregend wie der andere.«
»Du jagst mir kalte Schauer den Rücken hinunter.«
»Sei unbesorgt: Die Schule der Schreiber wird sich damit begnügen, dich zu verstoßen. Sieh zu, keine ernsten Verbrechen zu begehen; die Angelegenheit könnte mir entgleiten.«
»Wie gut ist es, sich wiederzufinden, Paser.« Der Hund sprang um Sethi herum, welcher ihn zu seinem großen Vergnügen zu einem Lauf herausforderte; daß sie sich mochten, bereitete Paser Freude.
Brav besaß ein sicheres Gespür und Sethi ein weites Herz. Gewiß, er schätzte weder seine Einstellung noch seine Lebensweise und befürchtete, sie könnten ihn zu bedauerlichen Unmäßigkeiten verleiten; doch er wußte, daß Sethi das gleiche von ihm dachte. Indem sie sich verbündeten, könnten sie wohl einige Wahrheiten aus ihrem jeweiligen Wesen schöpfen.
Da der Esel keinen Einwand erhob, überschritt Sethi die Schwelle von Pasers Behausung; er hielt sich nicht weiter im Amtszimmer auf, wo Papyri und Täfelchen ihm Schlechtes in Erinnerung riefen, und stieg hinauf ins Obergeschoß. »Dein Haus ist kein Palast«, stellte er fest, »doch die Luft hier ist erträglich. Lebst du allein?«
»Nicht ganz; Brav und Wind des Nordens sind an meiner Seite.«
»Ich meinte damit eine Frau.«
»Ich bin von Arbeit überhäuft und …«
»Paser, mein Freund! Solltest du etwa noch ein junger … unschuldiger Mann sein?«
»Ich fürchte ja.«
»Dem werden wir abhelfen! Bei mir ist das nicht mehr der Fall. Im Dorf ist es mir wegen der Aufsicht einiger alter Weiber nicht gelungen. Memphis hingegen ist ein wahrer Göttergarten! Beim ersten Male habe ich mit einer kleinen Nubierin geschlafen, die bereits mehr Liebhaber gekannt hatte, als sie Finger an den Händen besaß. Als die höchste Lust mich überkam, glaubte ich, vor Glück zu sterben. Sie hat mich liebkosen, ihre eigene Wollust abwarten und wieder zu Kräften kommen gelehrt, um Spiele zu spielen, bei denen niemand verliert. Die zweite war die Braut des Türhüters der Schule; bevor sie treu werden wollte, hatte sie das Verlangen, einen kaum aus der Jugend herausgetretenen Burschen zu kosten. Ihre Gier befriedigte mich ungemein. Sie hatte wunderschöne Brüste und einen Hintern wie die Inseln des Nils vor der Schwelle. Sie hat mich erlesene Künste gelehrt, und wir haben gemeinsam geschrien. Danach habe ich mich mit zwei Syrerinnen in einem Haus des Bieres verlustigt. Die Erfahrung ist unersetzlich, Paser; ihre Hände waren sanfter als Balsam, und selbst ihre Füße wußten meine Haut zu streifen, daß sie sie erschauern ließen.«
28
Sethi zitiert den Anfang eines der Weisheitsbücher, die der Schreiberlehrling lesen und abschreiben mußte.