»Vertraulich. Betrifft nur Euch.«
»Führt ihn her.«
Paser wurde in die Mitte des Hofes gebracht, wo der Heerführer, die Hände hinterm Rücken verschränkt, breitbeinig seiner harrte. Zu seiner Linken ertüchtigten sich Jungkrieger bei Kräftigungsübungen; zu seiner Rechten wurde Bogenschießen erlernt. »Euer Name?«
»Paser.«
»Ich verabscheue Richter.«
»Was werft Ihr ihnen vor?«
»Sie stöbern überall herum.«
»Ich untersuche eine Vermißtenangelegenheit.«
»Ausgeschlossen bei den Verbänden, die unter meinem Befehl stehen.«
»Selbst bei der Ehrenwache des Sphinx?«
»Heer bleibt Heer, selbst wenn es sich um seine Altgedienten kümmert. Die Bewachung des Sphinx ist ohne Fehl erfüllt worden.«
»Seiner Gattin zufolge soll der ehemalige Oberaufseher tot sein; gleichwohl verlangt die Führung von mir, seine Versetzung von Rechts wegen zu bestätigen.«
»Nun denn, bestätigt sie! Man ficht die Weisungen der Führung nicht an.«
»In dem vorliegenden Fall doch.« Der Heerführer brüllte auf.
»Ihr seid jung und unerfahren. Macht Euch davon.«
»Ich stehe nicht unter Eurem Befehl, Heerführer, und ich will die Wahrheit über diesen Oberaufseher wissen. Ihr wart es doch, der ihn in diese Stellung berufen hat?«
»Gebt gut acht, kleiner Richter: Man belästigt Heerführer Ascher nicht!«
»Ihr steht nicht über dem Gesetz.«
»Ihr wißt nicht, wer ich bin. Ein falscher Schritt mehr, und ich zerquetsche Euch wie Ungeziefer.« Ascher ließ Paser mitten auf dem Hof zurück. Seine heftige Regung überraschte den Richter; weshalb führte er sich so auf, wenn er sich doch nichts vorzuwerfen hatte?
Als Paser darauf durch die Pforte der Kaserne schritt, rief der mit Strafhaft belegte Bogenschütze ihn an.
»Richter Paser …«
»Was wollt Ihr?«
»Vielleicht kann ich Euch helfen; wonach sucht Ihr?«
»Ich benötige Auskünfte über den ehemaligen Oberaufseher des Sphinx.«
»Seine Dienstunterlagen sind in der Schriftenkammer der Kaserne abgelegt; folgt mir.«
»Weshalb tut Ihr das?«
»Falls Ihr einen belastenden Hinweis gegen Ascher findet, werdet Ihr ihn dann anklagen?«
»Ohne Zögern.«
»Dann kommt. Der Schriftenverwahrer ist ein Freund; auch er haßt den Heerführer.« Der Bogenschütze und der Schriftenverwahrer führten ein kurzes Zwiegespräch. »Um in die Schriftenkammer der Kaserne Einsicht nehmen zu können«, merkte letzterer an, »brauchtet Ihr eine Erlaubnis vom Amt des Wesirs. Ich entferne mich für eine Viertelstunde, um mir mein Mahl im Haus der Speisung zu holen. Falls Ihr noch im Raum seid, wenn ich zurückkehre, werde ich gezwungen sein, Meldung zu machen.«
Fünf Minuten waren nötig, um die Ablageordnung zu verstehen, drei weitere, um Hand an die richtige Papyrusrolle zu legen, der Rest der Zeit, um das Schriftstück zu lesen, es sich einzuprägen, wieder einzuordnen und zu verschwinden.
Die Laufbahn des Oberaufsehers war beispielhaft: Nicht der geringste Schatten lag darauf. Der Schluß des Papyrus bot eine beachtenswerte Kunde: Der Altgediente führte eine Rotte von vier Mann an; die beiden ältesten waren zu beiden Seiten des Sphinx und die beiden anderen am Fuße des großen, zur Pyramide des Chephren führenden Aufwegs außerhalb der Umfriedung aufgestellt worden. Da er ihre Namen kannte, würde ihre Befragung ihn wahrscheinlich der Lösung des Rätsels näherbringen. Erschüttert trat Kem ins Amtszimmer. »Sie ist tot.«
»Von wem redet Ihr?«
»Von der Witwe des Wächters. Ich habe heute morgen einen Rundgang durch das Viertel gemacht; Töter hat etwas Ungewöhnliches bemerkt. Die Haustür stand einen Spalt offen. Ich habe die Leiche entdeckt.«
»Spuren von Gewalt?«
»Nicht die geringsten. Sie ist dem Alter und dem Kummer erlegen.«
Paser forderte seinen Gerichtsschreiber auf, sich zu versichern, daß das Heer sich um die Bestattung kümmern würde; falls dem nicht so wäre, wollte der Richter selbst für die Kosten aufkommen. Hatte er, ohne für das Hinscheiden der armen Frau verantwortlich zu sein, nicht ihre letzten Tage getrübt?
»Seid Ihr weitergekommen?« fragte Kem. »In entscheidender Weise, hoffe ich; allerdings hat Heerführer Ascher mir kaum geholfen. Hier habt Ihr die vier Namen der unter dem Befehl des Oberaufsehers stehenden Altgedienten; ermittelt ihren Aufenthaltsort.«
Der Gerichtsschreiber Iarrot traf in dem Augenblick ein, da der Nubier aufbrach. »Meine Frau setzt mir übel zu«, gestand Iarrot mit zerknirschtem Gesicht. »Gestern hat sie sich geweigert, das Nachtmahl zuzubereiten! Wenn das so weitergeht, wird sie mir ihr Lager verbieten. Zum Glück tanzt meine Tochter zusehends besser.« Schmollend und brummig begann er, die Tontafeln widerwillig zu ordnen.
»Beinahe hätte ich es vergessen … ich habe mich mit den Handwerkern befaßt, die in der Werft arbeiten möchten. Ein einziger beunruhigt mich.«
»Ein Straftäter?«
»Jemand, der in einen Schleichhandel mit Amuletten verwickelt war.«
»Frühere Vorfälle?« Iarrot setzte eine zufriedene Miene auf. »Sie dürften Eure Aufmerksamkeit wecken. Er übte bisweilen den Beruf eines Schreiners aus; er wurde als Verwalter auf den Ländereien des Zahnheilkundlers Qadasch beschäftigt.«
In Qadaschs Wartezimmer, in das er nicht ohne Schwierigkeit vorgelassen worden war, saß Paser neben einem recht verkrampften Mann von kleinem Wuchs. Sein schwarzes, sorgfältig geschnittenes Haupt- und Schnurrbarthaar, seine matte Haut und sein herbes, längliches, von Muttermalen übersätes Gesicht verliehen ihm ein düsteres und abweisendes Äußeres.
Der Richter grüßte ihn.
»Ein beschwerlicher Augenblick, nicht wahr?« Der kleine Mann stimmte zu. »Leidet Ihr sehr?«
Er antwortete mit einer ausweichenden Handbewegung.
»Mein erster bohrender Zahnschmerz«, gestand Paser. »Seid Ihr schon einmal von einem Zahnheilkundigen behandelt worden?« Qadasch erschien.
»Richter Paser! Solltet Ihr leidend sein?«
»Leider, ja!«
»Kennt Ihr Scheschi?«
»Ich hatte noch nicht die Ehre.«
»Scheschi ist einer der glänzendsten Wissenschaftler des Palastes; auf dem Gebiet der Stoff- und Metallkunde kann ihm niemand etwas streitig machen. Deshalb gebe ich bei ihm Heilmittel und Füllungen in Auftrag; er ist übrigens gerade gekommen, um mir eine Neuigkeit anzubieten. Seid beruhigt, es wird nicht lange dauern.«
Trotz seiner Sprachhemmung hatte Qadasch sich etwas eilfertig gegeben, als ob er einen langjährigen Freund empfinge. Wenn besagter Scheschi weiterhin derart wortkarg bliebe, drohte seine Unterredung mit dem Praktiker kurz zu werden. In der Tat holte der Zahnheilkundler den Richter ungefähr zehn Minuten später ab.
»Setzt Euch in diesen Faltsessel und lehnt den Kopf zurück.«
»Er ist nicht gesprächig, Euer Forscher.«
»Ein eher verschlossenes Wesen, aber ein aufrichtiger Mensch, auf den man bauen kann. Was ist Euch geschehen?«
»Ein unbestimmter Schmerz.«
»Laßt uns das mal sehen.«
Qadasch bediente sich eines Spiegels und nutzte einen Sonnenstrahl, um Pasers Gebiß zu untersuchen. »Habt Ihr bereits einen Berufsgenossen aufgesucht?«
»Einmal, in meinem Dorf. Einen fahrenden Zahnheilkundigen.«
»Ich sehe eine winzige Zahnfäule. Ich werde den Zahn mit einer wirksamen Füllung festigen: Terebinthenharz[35], nubische Erde, Honig, Mühlsteinsplitter, grüner Augentrost und Kupferteilchen. Falls er wackelt, werde ich ihn mit einem feinen Golddraht an dem benachbarten Backenzahn befestigen … Nein, das wird nicht notwendig sein. Ihr habt ein gesundes und kräftiges Gebiß. Hingegen solltet Ihr auf Euer Zahnfleisch achten. Gegen den Eiterfluß verordne ich Euch eine Mundspülung aus Koloquinte, Gummi, Anis und eingeschnittenen Sykomorenfeigen; Ihr werdet sie eine ganze Nacht draußen lassen, damit sie sich mit Tau sättigt. Ebenso werdet Ihr Euer Zahnfleisch mit einem Brei aus Cinnamomum, Honig, Gummi und Öl einreiben. Und vergeßt nicht, häufig Sellerie zu kauen; er ist nicht allein eine belebende und den Hunger anregende Pflanze, sondern stärkt auch noch die Zähne. Doch laßt uns nun ernsthaft miteinander reden; Euer Zustand erforderte keine dringende Behandlung. Weshalb wünschtet Ihr mich ohne Verzug zu sehen?«
35
Die Terebinthe oder Terpentin-Pinie ist eine Pistazie, deren Harz in der Medizin und zu rituellen Rezepturen verwendet wurde.